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seins, sondern es sind innere Bedürfnisse des ganzen Menschen, welche zu ihr führen und an ihr festhalten" 1).

Ähnlich äußert sich W. Dilthey bei Besprechung der Schola= stik: „Die Herrschaft der Religion giebt allen höheren Gefühlen und Ideeen eine seltene Sicherheit und Tiefe..." „Das Auge des Betrachters sah damals in jedem geistigen Inhalte den Zusammenhang mit dem Geseze Gottes oder den Widerstreit gegen dasselbe. Religion, wissenschaftliche Wahrheit, Sittlichkeit und Recht wurden nicht als relativ - selbständige Zweckzusammenhänge vom mittelalter= lichen Denken aufgefaßt, sondern für dieses war ein Idealgehalt in ihnen“... „Es erscheinen die gewaltigsten Denker nur als Repräsentanten dieser Weltansicht und Lebensordnung. Was an ihnen individuell war, ordnet sich diesem Systeme unter und darin war gegründet, daß der Denker eine Weltmacht war“ 2).

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Auch die Folie zu diesem Verhältnisse giebt Dilthey: dazu dient ihm die neuere Philosophie mit ihrem unsicheren Tasten und ihrer mangelnden Bewurzelung: Wo Metaphysik fortbestand, wandelte sie sich in ein bloßes Privatsystem ihres Urhebers und derjenigen Personen, welche sich vermöge einer gleichen Verfassung der Seele von diesem Privatsysteme angezogen fanden... Eine freie Mannigfaltigkeit von metaphysischen Systemen, deren keines erweisbar ist, hat sich gebildet... Handelt es sich etwa darum, unter diesen Systemen das wahre auszusuchen? Das wäre ein sonderbarer Aberglaube; so vernehmlich als möglich lehrt diese metaphysische Anarchie die Relativität aller metaphysischen Systeme“ 3).

Derartige Privatsysteme gab es nun auf christlichem Boden ebenfalls: es sind die inkorrekten und häretischen spekulativen Lehren, die zu keiner Zeit gefehlt haben; der Unterschied ist nur der, daß sie dürre Äste an einem lebendigen Baume waren und daß ein Auge darüber wachte, daß sie den grünenden Ästen nicht Luft und Licht entzögen, während sich in der Neuzeit die dürren Äste

450.

1) Eucken, Die Lebensanschauungen der großen Denker, 1890, S. 290. 2) Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften, 1833, S. 448. 423. 3) Daj., S. 455.

so gehäuft haben, daß Kurzsichtige die lebendigen gar nicht mehr sehen.

Wo es ein Assimilieren und Angliedern giebt, da ist auch die Repulsion und Ausstoßung unvermeidlich. Der animalische Organismus stößt zurück, was seine Lebensthätigkeit zu alterieren droht, aber auch die geistigen Organismen bethätigen ihre Kraft durch Abweisen des Fremdartigen: der Sprachgeist sträubt sich gegen Worte und Wendungen, die ihm aufgedrängt werden, und die Grammatiker find berufen, das Fremdartige als das Inkorrekte zu bezeichnen und es auszuweisen aus dem Bannkreise der Sprache. Ebenso reagiert die Kunst, wenn sie Stilbewußtsein hat, gegen Elemente, die gegen dieses verstoßen und üben die echten Künstler ein Zensorenamt. So sind auch die Zensuren der Kirche eine Äußerung ihres orga= nischen Lebens; sie weist ab, was gegen ihr Lebensprinzip ist, und die Abweisung ist notwendig um so nachdrücklicher, als die Verantwortung ihrer Vertreter eine größere ist, als die der Zensoren der Sprache und Kunst.

Sollen der Philosophie von einem umfassenden Ganzen „beseelende Kräfte" kommen, soll sie auf einem, allen Gliedern desselben gemeinsamen „Idealgehalt" fußen, soll der Denker dadurch eine Weltmacht" werden, so muß auf eine Freiheit, welche die Gliedlichkeit aufhebt, auf eine Autonomie, welche Isolierung ist, verzichtet werden. Ist die christliche Philosophie darum Macht und Leben, weil ihre Prinzipien und ihr Erkenntnisschaz bei einem Gesamtbewußtsein hinterlegt, mit dem Wissen und Gewissen einer großen Gemeinschaft, die sich in Generationen hinbreitet, verwachsen ist, so hat dieses Gewissen eben auch mitzusprechen über die Reinerhaltung dieser Prinzipien und die Sicherung dieses Schages. Gereicht es dem christlichen Denken zum Vorteile, daß es auf einer umfassenden, altererbten Weisheit, auf einem tiefwurzelnden und weitverzweigten Ethos ruht, so muß es sich diesen seinen Grundlagen auch konformieren und die darin wirkenden Kräfte: Autorität, Tradition, Pietät, Glaube auch in sich hineinleiten. Das christliche Gesamtbewußtsein ist nun einmal nicht aus Summierung indivi

dueller Meinungen und Strebungen, sondern durch Ausstrahlung von einem Punkte aus entstanden; die Gestaltung vom Zentrum aus beherrscht hier die Gemeinschafts- wie die Gedankenbildung. Was christlich sei, kann die Philosophie weder von sich aus bestimmen, noch durch Umfrage erfahren, sondern lediglich auf dem Wege, auf dem es die Apostel, die Apostelschüler, die Väter erfuhren. Mit dieser Forderung wird die Spekulation nicht unmündig und unfrei gemacht, vielmehr zeigt sie ihre Reise im Verständnisse des Lebensganzen und im dienenden Anschlusse an dasselbe und bethätigt sie ihre Freiheit in der Einhaltung von dessen Gesez, das für sie kein aufgedrängtes, sondern, wenn sie den rechten Geist hat, ein inneres ist.

§. 52.

Das Verhältnis der Philosophie zur Theologie.

1. Die gliedliche Stellung der Philosophie im christlichen Lebensganzen bringt es mit sich, daß hier ihr Verhältnis zur Theologie eine bestimmtere Regelung erhält, als es bei den alten Völkern nötig war. Der Hauptpunkt steht aber schon bei diesen außer Frage: Das Wissen von den göttlichen Dingen wird, als auf Offenbarung der Gottheit zurückgehend, als das höhere, die Erkenntnis der menschlichen Dinge und die Spekulation als das untergeordnete Gebiet erkannt. Der Veda geht den Vedanga's und dem Vedanta voran, die Weisen, die jenen „geschaut“ haben, sind ehrwürdiger als die andern, die das Schauen dieser „ausgebreitet haben 1). Bei den Griechen ist Apollon, der von Zeus seine Eingebungen erhält, der Führer der Musen, die den irdischen Künsten zugewandt sind und von ihnen sind die ehrwürdigsten Kalliope und Urania, die von der Vorzeit und dem Himmel singen 2). Das Ab Jove principium Musae 3) gilt vom Gesange und der Wissenschaft. Die bei den Griechen gangbare Definition der Weisheit als der Kunde von den göttlichen und menschlichen Dingen, nennt bedeutungsvoll jene zuerst. Sokrates wurde getadelt, weil er sich auf diese beschränkte; ein Inder, hieß es, mußte ihn belehren, Niemand könne die menschlichen Dinge erkennen, wenn er nichts von den göttlichen wisse 4).

1) Bd. I, §. 10, 1.

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2) Das. §. 2, 2 u. 10, 1.

3) Verg. Ecl. 3, 4) Aristox. ap. Eus. Praep. ev. XI, p. 511. Bd. I,

Willmann, Geschichte des Idealismus. II.

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Platon sagte, wer nach dem seligen Leben strebt, müsse zuerst die göttliche Ursache (airía) in den Dingen aufsuchen und dann die Naturnotwendigkeit erforschen um jener willen 1) und er eröffnet die schwerwiegendste seiner Lehren, den Saß, daß die höchste Ur= sache über die Gegensäße hinausliege, mit der Darlegung des Glau= bens der Urzeit 2). Aristoteles bezeichnet „die erste Philosophie“, die er auch Theologie nennt, als „die am meisten gebietende“, άoxinwτáτn 3). Chrysipp erklärt, man könne nicht in entsprechenderer Weise (oixelógεtov) zu den ethischen Untersuchungen vorschreiten, als von der allgemeinen Natur und der Weltordnung aus 4) und in demselben Sinne heißt es bei Cornutus: „Auf das Göttliche zu blicken, ist Element und Grundlage der Bildung“ 5).

Die Neuplatoniker fußen auf der Anschauung, daß die Spekulation einen Weisheits- und Wahrheitsinhalt höheren Ursprungs gedanklich zu gestalten habe und stügen ihre Philosopheme auf Göttersprüche, himmlische Sazungen und Theologeme 6). Philon der Jude nennt die Philosophie die Magd der Weisheit, dovλn oopías, weil die Weisheit die Erkenntnis von den göttlichen und mensch= lichen Dingen und von deren Gründen ist, die Philosophie aber nur die Bemühung um die Weisheit, der sie ähnlich dient, wie ihr selbst die Bildungswissenschaften dienstbar sind 7). Er spricht damit aus, was Pythagoras und Platon in den Namen piλooopía legten: menschliches Streben nach einer Weisheit, die nur Gott befigt *) μηδ an der er ben Menden burd φῆμαι, τελεταί, μαν Tɛía einen Anteil gewährte, lange vor dem Erwachen jenes Strebens 9).

2. Die Kirchenschriftsteller können sich bei der Darlegung des Verhältnisses von Theologie und Philosophie die Aussprüche der vorchriftlichen Denker fast wörtlich aneignen. Clemens von Alexandrien sagt: „Wie die Bildungswissenschaften im Dienste der Philosophie, ihrer Herrin, zusammenwirken, so arbeitet die Philosophie

1) Plat. Tim. p. 68 c. 2) Phil. p. 16, c.; Bd. I, §. 1, 1 u. 26, 1. 3) Daj. §. 36, 3 u. 34, 1.—4) Das. §. 33, 1. - 5) Das. 2. 6) Daj. 7) Das. §. 40, 2. 8) Daf. §. 16, 2 u. 26, 3.

§. 44, 1 u. 2.

9) Das. §. 28, 2.

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