Page images
PDF
EPUB

UEBER DIE VOM DICHTER DES ANEGENGE

BENUETZTEN QUELLEN.

s. unten

Mit einem kleinen bruchstücke des Anegenge, mit dem 'streite der vier töchter gottes' hat sich R. Heinzel, Zs. fda. 17, 1 ff. beschäftigt. Er sucht nachzuweisen, dass diese partie in einer predigt des hl. Bernard ihre quelle habe. Ausführlicher beschäftigt sich mit den quellen des gedichtes E. Schröder in seiner schrift: Das Anegenge. Eine litterarhistorische untersuchung (QF. 44), Strassburg 1881. Er hat das verhältnis desselben zur Bibel und zu den verschiedenen commentaren der hl. schrift behandelt. Auch auf die apokryphe literatur, welche der verfasser des Anegenge benützt haben könnte, weist er hin, ohne jedoch ein bestimmtes buch als directe quelle namhaft zu machen. Dass Honorius Augustodunensis dem gedichte den stempel seines geistes aufgedrückt habe, ist ein irrtum: das deutsche gedicht erinnert nur deshalb manchmal an die werke dieses abschreibers, weil er dieselben quellen benützt hat, die auch dem verfasser des Anegenge vorlagen. Uebereinstimmungen mit anderen deutschen gedichten sind gleichfalls auf eine gemeinsame lateinische quelle zurückzuführen. Kelle, der in seiner Geschichte der deutschen litteratur von der ältesten zeit bis zum 13. jh. bd. 2 (Berlin 1896) s. 141 ff. eingehend von den quellen des Anegenge handelt und zeigt, dass das deutsche gedicht nach inhalt und form von Hugo von St. Victor Summa sententiarum und De sacramentis abhängig ist, bemerkt s. 353 in einer anmerkung zu s. 151, dass es der raum nicht gestatte, diese abhängigkeit im einzelnen darzulegen. Diese ins einzelne gehende darlegung soll nun auf den folgenden blättern geliefert werden.

[ocr errors]

Beiträge zur geschichte der deutschen sprache. XXIV.

17

Wie der priester sein gebet, in welchem er die geheimnisse der hl. religion feiert, mit den worten des Psalmes 50, 16 domine labia mea aperies beginnt, so auch unser dichter, der ja in seinem gedichte auch die grössten geheimnisse des christlichen glaubens feiern will. 1, 2-8') bittet er gott um seinen beistand zu der schwierigen aufgabe, die er unternehmen will. 1,9-16 bedient er sich eines biblischen vergleiches im anschluss an Num. 22, 28: aperuitque dominus os asinae et locuta est: quid feci tibi? cur percutis me? ecce iam tertio. Wenn der dichter sagt: daz si ir mæister tæte chunt, daz er nicht furbaz solde, so stimmt das mit der bibel nicht überein; denn die eselin gibt durch ihr abweichen vom wege (ib. v. 23 avertit se de itinere), durch ihr andrücken an die mauer (v. 25 iunxit se parieti) u.s. w. kund, dass sie den weg nicht gehen will; die eigentliche belehrung des propheten Balaam geschieht erst durch den engel, den er früher nicht gesehen hat. Die stelle ist also frei citiert und frei angewendet. Warum der dichter so innig um beistand fleht, sagt er im folgenden 1, 17-26, wo er einen kleinen, keineswegs erschöpfenden überblick über die folgende darstellung gibt, um 1, 27 ff. speciell auf die erlösung als das vorzüglichste werk der gottheit hinzuweisen. Doch bevor er beginnt, ruft er gott nochmals um seinen beistand an und bedient sich hierbei abermals eines biblischen vergleiches: 1, 37 ff. Für v. 40-42 ist Lev. 9, 14 heranzuziehen: non maledices surdo, nec coram caeco pones offendiculum; v. 43: daz in der vasten solde ist dem sinne nach aus der stelle entlehnt, welche zu v. 44-47 als quelle gedient hat: si quis aperuerit cisternam, et foderit, et non operuerit eam, cecideritque bos aut asinus in eam. Reddet dominus cisternae pretium iumentorum (Ex. 21, 33. 34). Der sinn dieses letzten verses ist auf den beschädigten blinden mit den worten: v. 43 daz in der vasten solde angewendet. Im folgenden (1, 48-69 und 2, 1-19) richtet sich der dichter gegen die tumben und ermahnt sie nicht ze tieffe nachzudenken; 2) er bringt eine ziemlich grosse anzahl von punkten, über welche die tumben nicht nachdenken

1) Ich citiere nach Hahn, Gedichte des 12. und 13. jh.'s, 1840. 2) Es wäre möglich, dass der dichter hierbei Ecclus. 3, 22 ff. im auge hatte: altiora te ne quaesieris, et fortiora te ne scruteris... Non est enim tibi necessarium ea, quae abscondita sunt, videre oculis.

sollen, um sich nicht zu 'ertränken', gibt aber damit zugleich die wichtigsten punkte an, die er in seiner späteren darstellung ausführlich behandelt: ja man könnte sagen von 1, 60-69 bis 2,1-19 ist der hauptinhalt des ganzen gedichtes niedergelegt. Die gedanken welche hier ausgesprochen sind, sind ganz allgemeine sätze, welche dem dichter aus seinem theologischen wissen in die feder flossen, gedanken über gott, über die schöpfung, über den fall der engel und des menschen, über die erlösung und heiligung des menschen, über die ungetauften kinder die übrigens chronologisch sehr gut geordnet sind - gedanken, wie sie dem dichter aus der hl. schrift und den vätern bekannt sein mussten.

Wo der dichter endlich nach einer ziemlich langen einleitung mit der eigentlichen behandlung seines themas beginnt, können wir sofort eine für ihn sehr ausgiebige quelle nachweisen: Hugo von St. Victor, De sacramentis und Summa sententiarum (Migne, Patrologia latina t. 176). 2, 20-22 ist nämlich entnommen aus Hugos Dialogus de sacramentis legis naturalis et scriptae, wo gleichfalls mit der frage begonnen wird. D.: quid fuit priusquam mundus fieret? M.: solus deus. D.: ubi fuit cum nihil esset praeter ipsum? M.: ubi modo; nur dass der dichter die doppelfrage zusammenzieht und nun 2, 23-26 direct antwortet. Dazu stimmt Hugo t. 2, 18: D.: ubi est modo? M.: in semetipso est, et omnia in ipso sunt et ipse est in omnibus.

Die verse 2, 27 ff.: owe wie sanfte er enbait dirre werlde gruntveste geben den inhalt einer stelle bei Hugo t. 2, c. 21. 22 wider: deus ita ab aeterno in se et per se beatus fuit, ut eius gloria et beatitudo, quia aeterna et incommutabilis erat, non posset minui, et quia plena et perfecta fuit, non posset augeri Nullo igitur indigens...

In den folgenden versen 2, 29 f.: ob dem abgrunde was sein reste, der gotes gæist da swebte denkt der dichter wol zunächst an Gen. 1, 2: terra autem inanis et vacua, et tenebrae erant super faciem terrae: et spiritus dei ferebatur super aquas, wenn ihn nicht Augustinus, De genesi contra Manich. c. 5 beeinflusst hat, der da sagt: non enim per spatia locorum superferebatur aquae ille spiritus ... sed per potentiam invisibilis sublimitatis suae.

2, 31-41 ist, wenn auch nicht wörtlich, doch inhaltlich aus Hugo t. 2, c. 21. 22 entnommen: M.: deus, qui summum et verum perfectumque bonum est, ita ab aeterno in se et per se beatus fuit, ut eius gloria et beatitudo, quia aeterna in incommutabilis erat, non posset 'minui' et quia plena et perfecta fuerat, non posset ‘augeri'. Nullo igitur indigens, sed bonum, quod ipse erat et quo beatus erat, cum aliis participare et alios in illo et per illud beatificare volens, nulla necessitate, sed sola charitate creavit rationalem creaturam... Dieser passus nullo igitur indigens führte den dichter dazu, die abhängigkeit der schöpfung von gott und die unabhängigkeit des schöpfers von den geschöpfen zu betonen. Für v. 40 und 41 ist Hugo t. 2, c. 20, c heranzuziehen: D.: quare novissime factus est homo? M.: quia homo universae creaturae praeficiendus fuit, congruum erat, ut prius mansio eius praepararetur, postmodum ipse ordinatis omnibus quasi possessor et rector introduceretur in orbem terrarum.

2, 42-44. Hugo spricht t. 2, c. 19 auch von der erschaffung des lichtes: D.: quae formatio facta est prima die? M.: lux facta est prima die, natürlich im anschluss an Gen. 1, 3: dixitque deus: fiat lux. Et facta est lux. Der ansicht, daz er ie vinster gewunne entgegenzutreten, darüber belehrte den verfasser des Anegenge Augustinus, der schreibt: et vidit deus lucem, quia bona est. Dicunt enim: 'ergo non noverat deus lucem, aut non noverat bonum'.

2, 45-48. Dazu stimmt wider Hugo (De sacram., Migne 1. c. s. 20) D.: quae formatio facta est die quarta? M.: luminaria condita sunt in coelo, i. e. sol et luna et stellae, ut lucerent super terram et illuminarent illam.

Wie der dichter schon 2, 43 f. der irrigen meinung entgegengetreten war, es könnte für gott je eine finsternis existiert haben, so tritt er im folgenden abermals einer irrigen meinung, diesmal über den beweggrund der schöpfung und über die erhaltung derselben entgegen. Und wie er dort durch Augustinus angeregt wurde, so geschah es auch hier: 2, 49–56. Augustinus, De Genesi ad literam c. 7, no. 13, s. 151 sagt, allerdings nur vom hl. geiste redend: an quoniam egenus atque indignus amor ita diligit, subiciatur; propterea cum commemoratur spiritus dei, in quo sancta eius benevolentia dilectioque intelli

gitur, superferri dictus est, ne facienda opera sua 'per indigentiae necessitatem' potius quam per abundantiam beneficentiae deus amare putaretur?... Cum ergo sic oporteret insinuari spiritum dei, ut superferri diceretur, commodius factum est, ut prius insinuaretur aliquid inchoatum, cui superferri diceretur; non enim loco, 'sed omnia superante et praecellente potentia'.

Die verse 2, 57-59 bilden den übergang zu der folgenden darstellung von der erschaffung und dem falle der engel, was Hugo t. 2, 22 andeutet und s. 83 ff. weiter ausführt. Aber bei seiner nicht zu verkennenden weitläufigkeit kann der dichter es sich nicht versagen (2, 60-68) nochmals an die gewalt und chrafft gottes, die er schon vor der schöpfung besessen, zu erinnern, allerdings auch hier im anschlusse an die bereits citierte stelle aus Hugo, De sacram., t. 2, 21 f.

Nun kommt er zur erschaffung der engel selbst, 2, 69–78. Dazu hat Hugo die gedanken hergegeben; denn De sacram. c. 22 schreibt er: nullo igitur indigens, sed bonum quod ipse erat et quo beatus erat, cum aliis participare et alios in illo et per illud beatificare volens, nulla necessitate, sed sola charitate creavit rationalem creaturam, id est spiritus rationales, iussitque ut ipsi partim in sua puritate persisterent, und unter diesen spiritus rationales meint eben Hugo, wie der context ergibt, die engel.

2,793, 1 folgt der dichter seinem gewährsmann Hugo an derselben stelle weiter: illis vero, qui in sua puritate permansuri fuerant, mansionem in coelo collocavit ... et illos per oboedientiam in summo confirmaret ... Et sicut excellentiam spiritus infirmitate corporalis naturae coniunxerat una creationis condicio, ita 'humilitatem' creaturae spiritualis, excellentiae creatoris sociare debuerat una pietatis dignatio. Für die verse 79 und 80 ist der Tractatus de creatione et statu angelicae naturae c. 2 heranzuziehen, wo gefragt wird, ob die engel im anfang gut oder schlecht, gerecht oder ungerecht u. s. w. gewesen seien, und schliesslich gesagt ist: est enim omnis virtus meritum, et omne meritum ex libero arbitrio' und das ist das frei ir gemute, wie unser dichter es widergibt.

Im folgenden geht nun der dichter auf die sache näher ein und sucht uns das frei gemute und den grund, warum der schöpfer den engeln ein solches verliehen habe, näher zu erklären: 3,2-25: Hugo von St. Victor hat den in der patris

« PreviousContinue »