Die Sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945: Ein Handbuch

Front Cover
Roland Roth, Dieter Rucht
Campus Verlag, 2008 M05 13 - 770 pages
Excerpt from book: Die Demonstrationen konnten an manchen Orten auf zurückliegenden, kleineren Demonstrationen aufbauen, wurden zyklisch und erlangten Massencharakter. Der für Mobilisierungen sozialer Bewegungen bestehende Zwang zur Steigerung der Aktionsformen bzw. der Größe der Bewegungen lässt sich hier in Reinform studieren: In den Wochen bis zur Öff nung der Mauer wuchs etwa die Zahl der Teilnehmer an den Leipziger Montagsdemonstrationen exponentiell. In den Monaten September, Oktober und November verdoppelten sich die Teilnehmerzahlen von Woche zu Woche. Eine kurze Zeit hatte es gar den Anschein, als ob die gesamte Bevölkerung der Stadt davon erfasst würde. Zugleich verbreiteten sich die Demonstrationen in der ganzen Republik. Die Leipziger Montagsdemonstration diente dabei vielen lokalen Protesten als Vorbild. Es wird geschätzt, dass sich über eine Million der sechzehn Millionen Einwohner der DDR an den Mobilisierungen des Herbstes 1989 beteiligte. Im Gegensatz zu Protesten in westlichen Ländern wohnte den Mobilisierungen kein provokatives oder spielerisches Moment inne; sie brachten auch keine Innovationen in die Protestkultur ein. Ihre Besonderheit war, dass sie überhaupt stattfanden. Der Ernst, von dem sie in der Anfangsphase getragen waren, brachte die existenzielle Situation zum Ausdruck. Neben den Demonstrationen bildete in dieser Phase die Petition eine wesentliche Aktionsform der Bürgerbewegungen. Von zentraler Bedeutung war dabei die Unterschriftenkampagne für die Zulassung des Neue Forums. Neben den Demonstranten, die die Forderung "Neues Forum zulassen" zu einer wesentlichen Losung erhoben hatten, unterstützten bis Ende November 200 000 Bürger in der DDR mit ihrer Unterschrift diese Bürgerbewegung. Kundgebungen gehörten erst ab Anfang November zum Aktionsrepertoire der Bürgerbewegungen; die größte war die am 4. November in Berlin von den Kulturschaff enden, den Bürgerbewegungen, aber auch Vertretern des Reformfl ügels der SED und anderen Massenorganisationen veranstaltete Versammlung mit etwa 500 000 Teilnehmern. Diese Aktionsform erlangte aber keine größere Bedeutung, zumal sich zeigte, dass allein die Bürgerbewegungen nur eine verhältnismäßig geringe Zahl von Bürgern mobilisieren konnte. Ähnliches triff t für die Dialogveranstaltungen zu, die ebenfalls im November ihren Höhepunkt hatten und die in den Runden Tischen ihre institutionalisierte Fortsetzung fanden. Mit den Besetzungen der Stasi-Zentralen griff en die Bürgerbewegungen ab Anfang Dezember 1989 auch zu radikaleren Mitteln, die im Januar 1990 teilweise gewalttätigen Charakter annahmen, wie im Falle der Besetzung der Berliner Stasi-Zentrale. Bereits nach der Öff nung der Westgrenze am 9. November war ein deutlicher Rückgang der Teilnehmerzahlen an den Demonstrationen zu verzeichnen, der sich nach der Erfüllung weiterer zentraler Forderungen, den Rücktritten des Politbüros und des Zentralkomitees der SED sowie der Aufgabe ihres formellen Machtanspruchs, beschleunigt fortsetzte. Allerdings waren damit noch nicht die genuinen Bewegungsziele der Einführung von Basisdemokratie und des Aufbaus einer zivilen Gesellschaft erfüllt. Diese wurden aber auch kaum von der Bevölkerung geteilt - entgegen der Wahrnehmung in den Bürgerbewegungen. Um diese Ziele herbeizuführen gab es auch keine eigenständigen Mobilisierungen oder Aktionen mehr, zumal die Aktivisten der Bürgerbewegungen in dieser Phase vollständig von Organisations- und politischer Arbeit absorbiert waren und für weitergehende Ziele keine Ressourcen zur Verfügung standen. Alle Aktionsformen waren aus der jeweiligen Situation und ihrer Deutung durch die Akteure der Bürgerbewegungen erwachsen; sie folgten nicht strategischen Zielen. Bemerkenswert ist neben ihrer außerordentlichen Durchschlagkraft, dass sie Ergebnisse massenhafter demokratischer Lernprozesse waren. Die Mo bilisierungen des Herbstes 1989 bewirkten die Einübung einer unkonventionellen Form demokratischer Partizipation. Für viele DDRBürger war dies nach Jahrzehnten die erste Möglichkeit, eigene Interessen öff entlich geltend machen und sich unabhängig von den gesellschaftlichen Organisationen artikulieren zu können.
 

Contents

Vorwort
7
Kapitel 1 Einleitung Roland RothDieter Rucht
9
HistorischPolitischer Kontext
37
Bewegungen Protesteund Themenfelder
155
Schluss
633
Chronologie von Ereignissen Roland Roth und Dieter Rucht
669
Abkürzungen
695
Abbildungsnachweis
700
Autorinnen und Autoren
701
Literatur
703
Register
761
Copyright

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