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ahnte den gewaltigen Bau, zu dem J. Grimm den Grund legte. Sein Auge ließ sich nicht durch das Einzelne und Äußerliche fesseln; er wußte, daß die historische Forschung alle Äußerungen des Volkslebens umfassen müsse, um ihren Zusammenhang in der Tiefe des Seelenlebens zu erforschen. 'Unsere ganze mittlere Geschichte', sagt er, 'ist Pathologie und meistens nur Pathologie des Kopfes, d. i. des Kaisers und einiger Reichsstände. Physiologie des ganzen Nationalkörpers was für ein Ding! und wie sich hierzu Denkart, Bildung, Sitte, Vortrag, Sprache verhielt, welch ein Meer ist da noch zu beschiffen und wie schöne Inseln und unbekannte Flecke hie und da zu finden.'

Herder selbst hatte übrigens bis dahin den Minnesingern eingehenderes Studium nicht gewidmet; ja nicht einmal die Bestrebungen anderer scheinen ihm recht bekannt gewesen zu sein.1) Es ist wenigstens auffallend, daß er, ohne der Göttinger Dichter zu gedenken, Gleim als den einzigen nennt, zumal der Aufsatz in dem von Boie herausgegebenen Deutschen Museum erschien. Und neben Gleim und den Göttingern wirkten schon im siebenten Jahrzehnt andere in derselben Richtung, wie denn auch die folgenden Jahre in verschiedenen Zeitschriften und von verschiedenen Verfassern Nachbildungen, Erläuterungen und Kompositionen von Minneliedern brachten.) Seit den achtziger Jahren setzten auch Gelehrte wie Christoph Heinrich Myller, Professor am Joachimsthalschen Gymnasium in Berlin, Bodmers und Breitingers Bestrebungen mit Eifer fort. 3) Im letzten Dezennium des 18. Jahrh. konnte man schon daran gehen, eine eigene Zeitschrift für das germanische Altertum zu

1) Im Sommer 1778 verschaffte er sich die Jenaer Hs., aus der er 1781 in Pfenningers Sammlungen zu einem christlichen Magazin Proben veröffentlichte, weitere erschienen 1802 in der Adrastea (Suphan 24, 169 ff.; s. Sokolowsky, Der altdeutsche Minnesang S. 25 f., 101 ff.).

2) Im Jahre 1773 erschienen, wie v. d. Hagen MS 4, 897 angibt, von einem gewissen Tratner Gedichte nach Walther v. d. Vogelweide. Ebenda werden auch Nachbildungen von Voß und Götz, Fülleborn und Haug erwähnt, die in verschiedenen Almanachen erschienen. Zusammenfassend Sokolowsky, Der altdeutsche Minnesang S. 71 ff. Auch Schmidt von Werneuchen, dem Goethe sein bekanntes Gedicht Musen und Grazien in der Mark' widmete, sang nach Walther v. d. Vogelweide, und selbst der Musenalmanach Schillers vom Jahre 1796 brachte ein Minnelied, obschon Schiller selbst durchaus keine Sympathie für diese ältere Literatur hatte.

3) v. Raumer S. 258 ff.

gründen: Bragur, ein litterarisches Magazin der deutschen und nordischen Vorzeit, herausgegeben von Böckh und Gräter 1791-1802.1) Die geistige Bewegung, die in Herders Schriften mit breitem Strom einherflutet, verlor allmählich an gleichmäßiger Stärke und zog sich wieder ins Enge zusammen; auf literarisches Schaffen und Betrachten sind die Geister vorzugsweise gerichtet. Die klassische Literaturperiode mußte erst ihren Höhepunkt erreicht haben, ehe eine neue Richtung siegreich vordrang und die Bestrebungen wieder aufgenommen werden konnten, die Herder mehr geahnt als verfolgt hatte. Die erste bedeutende Arbeit, die wir hier zu erwähnen haben, verleugnet den literarischen Charakter nicht: die 'Minnelieder aus dem Schwäbischen Zeitalter neu bearbeitet und herausgegeben' von Ludwig Tieck (Berlin 1803). Die Vorrede ist das Bedeutendste in dem Buch. Man vermißt zwar die Vielseitigkeit des Interesses, die schon Bodmer bekundet und die namentlich bei Herder überall hervorleuchtet; aber auf dem engeren literarischen Gebiet zeigt Tieck einen ebenso tiefen als weiten Blick. Er handelt von dem mannigfachen Inhalt der Minnepoesie, von ihrer Sprache, ergeht sich in enthusiastischer Bewunderung des Reimschmuckes, handelt von dem Stande der Sänger, versucht sich in der Charakteristik einzelner Gedichte und Dichter und läßt den Blick von der deutschen Minnepoesie weit ausschweifen zu den Italienern, zu Petrarca, Ariost, Tasso, zu dem Spanier Cervantes und dem Engländer Shakespeare. Die ganze Poesie des Abendlandes sucht er zu umspannen; denn die Poesie aller Zeiten und Völker erscheint. ihm als ein großes zusammengehöriges unteilbares Ganze, als der Ausdruck des Menschengemütes selbst. Es gibt doch nur eine Poesie', sagt er gleich im Eingang, die in sich selbst von den frühesten Zeiten bis in die fernste Zukunft mit den Werken, die wir besitzen, und mit den verlornen, die unsre Phantasie ergänzen möchte, sowie mit den künftigen, welche sie ahnden will, nur ein unzertrennliches Ganze ausmacht. Sie ist nichts weiter als das menschliche Gemüt selbst in allen seinen Tiefen, jenes unbekannte Wesen, welches immer ein Geheimnis bleiben wird, das sich aber auf unendliche Weise zu gestalten sucht; ein Verständnis, welches sich immer offenbaren will, immer von neuem versiegt und nach

1) v. Raumer, S. 285. Sokolowsky, Der altdeutsche Minnesang S. 33 ff.

bestimmten Zeiträumen verjüngt und in neuer Verwandelung wieder hervortritt.'

Der Standpunkt ist frei und hoch gewählt; vielleicht zu hoch. In allzu weiter Ferne verliert das Auge Sicherheit und festen Halt. Tieck sehnt sich das Allgemeine zu ergreifen und läuft darüber Gefahr, das Individuelle zu verlieren. Wenn er (S. XXV) offen bekennt, daß er manchmal lieber den Namen von Ländern und Städten unterdrückt habe, um das Gedicht allgemeiner zu machen, so kränkt er damit das Recht der Dichtung, ganz individuell zu sein, das Allgemeine im Konkreten zu geben. Es ist etwas Unfestes und Verschwimmendes in diesen Anschauungen des Romantikers.

Auf die Beurteilung Walthers insbesondere konnte diese Ansicht nicht günstig einwirken. Überhaupt war er, obwohl Bodmer und manche Literatoren seine dichterische Kraft und Vielseitigkeit, sowie seine Bedeutung für die Zeitgeschichte mit mehr oder weniger tiefem Verständnis erkannt und gerühmt hatten (Uhland V, 4), doch noch nicht wieder in die Ehren eingesetzt, die schon seine Zeitgenossen ihm zuerkannten. Tieck schätzt den Heinrich von Morungen, einen allerdings hervorragenden Dichter, am höchsten. Und wie weit er, der doch einen guten Geschmack und geübtes Urteil hatte, davon entfernt war, Walthers Art und Kunst recht zu würdigen, das zeigt sein Einfall, Walther mit Rumezlant zu identifizieren (S. XXVIII), das zeigt auch die Auswahl, die er aus dem Vorrat Waltherscher Lieder traf. Zwar kann man ihm die Anerkennung nicht versagen, daß er so ziemlich die schönsten herausgefunden hat1), aber nicht alles Schönste ist aufgenommen. Das Lied 'Unter der Linde' fehlt, und an der Spitze der Auswahl stehen zwei Töne (36, 21; 27, 17), in denen Lachmann Walthers Art vermißte; der erste gilt jetzt allgemein als unecht. Man hatte sich doch noch nicht lange und eingehend genug mit der älteren Literatur beschäftigt, um ein unbefangenes und zutreffendes Urteil über die einzelnen Erscheinungen zu haben. Der jüngere Titurel galt noch für ein Werk Wolframs von Eschenbach, für das hervorragendste Produkt mittelalterlicher Poesie; und in den Minneliedern, weil sie von der Art der modernen Poesie so weit abstanden, glaubte man mehr Natur- als Kunstpoesie zu sehen. Erst Jacob Grimms Jugend

1) 45, 37; 53, 25; 51, 13; 55, 26; 50, 19; 110, 13; 74, 20; 65, 33; 74, 10; 42, 15; 41, 13 (29); 99, 6.

aufsatz 'Etwas über Meister- und Minnegesang' in Aretins Neuem Literarischem Anzeiger 1807 und sein nach lebhafter Kontroverse mit Docen, v. d. Hagen, Büsching daraus erwachsenes erstes Buch 'Ueber den altdeutschen Meistergesang', Göttingen 1811, die erste gründliche, umfassende Untersuchung über einen Gegenstand der älteren deutschen Literatur, führten aus diesen nebelhaften Vorstellungen in die Klarheit: die Beschäftigung mit dem deutschen Altertum war jetzt aus einer Liebhaberei eine Wissenschaft geworden. Bei manchen Irrtümern im einzelnen erkannte Jacob Grimm deutlich die Entwicklungslinie unserer mittelalterlichen Lyrik; er zuerst wurde der strophischen Formkunst der Minnesinger gerecht, die sich im Meistergesang fortsetzt: man erkannte, daß der Minnesang Kunst war. Um dieselbe Zeit (1810) gab Benecke im ersten Bande seiner 'Beyträge zur Kenntniß der altdeutschen Sprache und Litteratur' Ergänzungen der Sammlung von Minnesingern aus der Bremischen Hs. (s. o. S. 2, Anm. 2), die er mit sorgfältiger Interpunktion versah. Er trug dadurch sehr viel mehr zum Verständnis derselben bei als irgendeiner vor ihm.

Das Hauptverdienst, richtigere Anschauungen über den Minnesang verbreitet und zugleich Walther auf die ihm gebührende Stelle gerückt zu haben, aber hat Ludwig Uhland: 'Walther von der Vogelweide, ein altdeutscher Dichter' 1822. Uhland steht in merklichem Gegensatz zu Tieck. Während dieser das Allgemeine suchte und das, was zu bestimmt an Ort und Zeit zu haften schien, überging oder dämpfte, erfaßt Uhland mit echt philologischem Sinn das Besondere, wie es aus der Eigentümlichkeit von Zeit und Ort, aus der persönlichen Anlage und Neigung des Dichters hervorgeht. 'Bei allem Gemeinsamen in Form und Gegenstand der Dichtung', sagt er, 'enthalten diese Sammlungen gleichwohl eine große Mannigfaltigkeit von Dichtercharakteren, eigentümlichen Verhältnissen und Stimmungen, persönlichen und geschichtlichen Beziehungen. Gerade diejenigen Lieder, welche sich mehr im allgemeinen halten und darum auch am leichtesten verstanden werden, sind vorzugsweise bekannt geworden und mußten dann auch dieser ganzen Liederdichtung den. Vorwurf der Eintönigkeit und Gedankenarmut zuziehen.' Uhland tritt aus dieser flachen Allgemeinheit heraus. Klar und lichtvoll hebt sich das Bild des Sängers von dem lebendig geschauten Hintergrunde ab. Gründliche Forschung, warme Teilnahme für den Gegen

stand, feiner poetischer Sinn verbinden sich in Uhlands Schrift und sichern ihr einen bedeutenden Platz unter den Erstlingswerken unserer deutschen Philologie.

Fünf Jahre später erschien die erste selbständige Ausgabe des Dichters von dem Meister der Kritik, von K. Lachmann. Sie beruht auf gründlicher Benutzung und Vergleichung aller handschriftlichen Quellen.

2. Die Überlieferung der Gedichte Walthers.

Die Quellen für Walthers Lieder sind folgende Handschriften 1):

A. die kleinere Heidelberger Hs. Cod. pal. germ. 357.

a. der jüngere Anhang von A.

B. die Weingartner Liederhs. zu Stuttgart.

b. die unter Reinmars Namen stehenden Strophen in B.

C. die große Heidelberger (Paris - Heidelberger) Hs. Cod. pal.

germ. 848.

D. die dritte Heidelberger Hs. Cod. pal. germ. 350.

E. die Würzburger Hs.

e. unter Reinmar stehende Strophen in E.

F. die Weimarer Hs. Q 564.

H. eine der Hs. D angebundene Sammlung von Liedern.

i. die Strophe 93, 7 in der Donaueschinger Originalhs. des Rappoltsteiner Parzival von Claus Wiße und Philipp Colin (v. J. 1336) und deren Römischer Abschrift.

k. der Leich in der Heidelberger Hs. Cod. pal. germ. 341.

k2. der Leich in der Koloczaer Hs.

1. der Leich in der Wiener Hs. 2677.

L. die Strophe 56, 14 im Frauendienst Ulrichs von Lichtenstein (Lachm. 240, 17).

M. die drei Strophen 14, 38. 51, 29. 51, 37 in der Münchener Hs. der 'Carmina Burana' Clm 4660 (in Schmellers Ausgabe der Carm. Bur. S. 72. 190. 205).

N. die 5 Strophen des Tones 53, 25 und die zwei ersten (die zweite unvollständig) von 45, 37 in Cod. Nr. 127. VII. 18 der Stiftsbibliothek zu Kremsmünster hrsg. v. Pfeiffer, Germania 2, 470 ff.

1) Zu den bei Lachmann - Kraus, Vorrede verzeichneten sind W und Z hinzugekommen.

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