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niemand urteilen, als wer an sich selbst Geschichte erlebt habe, und so gehe es auch ganzen Nationen. 'Die Deutschen können erst über Literatur urteilen, seitdem sie selbst eine Literatur haben.' Die geistige Entwicklung des deutschen Volkes war noch nicht auf den Punkt gekommen, wo man mit einigem Erfolge es hätte unternehmen können, historisches Interesse für die ältere Poesie zu erwecken. Goldast selbst war durch diesen Gesichtspunkt nicht geleitet; die politische Geschichte, die Institutionen der Vergangenheit waren sein Augenmerk. Niemand könnte die Gebräuche des Lehenswesens gehörig erläutern, niemand die mittelalterlichen Geschichtsschreiber, niemand die Benennung der Ämter und Würden verstehen ohne jene alten deutschen Schriften. Er selbst habe die Sitten und Einrichtungen unserer Vorfahren nicht verstanden, ehe er ihre eigenen Schriften gelesen habe. Die Kenntnis der Dichtung war hier noch Mittel, nicht Zweck. Die Auswahl selbst, die Goldast traf, ist charakteristisch: didaktische Dichter erregten die Aufmerksamkeit zuerst und schienen vollständigen Abdruckes wert. So interessierte ihn auch Walther von der Vogelweide als optimus ritiorum censor ac morum castigator acerrimus.

Als aber im 18. Jahrh. die Fortschritte der Philosophie und der schönen Literatur zur Beobachtung und gründlichen Kenntnis des menschlichen Seelenlebens führten, wurde auch das Interesse. an der Vergangenheit vielseitiger und tiefer. Wie Bodmer ein Vorkämpfer der neuen literarischen Richtung ist, so hat er allem auch das Verdienst, dem Studium der älteren Literatur die Bahn gebrochen zu haben. Was der älteren Zeit gefehlt hat, fühlte er ganz richtig. In der Einleitung zu den Minnesingern spricht er seine Verwunderung darüber aus, daß sein Landsmann, der Chronist Johannes Stumpf, der doch schon im 16. Jahrh. Kenntnis von der großen Liedersammlung gehabt hätte'), sich so wenig um die Minnesinger gekümmert habe: 'Wir müssen glauben, daß er das Buch nur mit fremden Augen gesehen habe..., oder war der verliebte Inhalt dem Geschmacke eines Mannes, der sich mehr um die kleinen. Taten, als um die Denkart und das Gemüt der Menschen bekümmerte, so widrig, daß er nur flüchtige Blicke auf das Buch geworfen

1) Die Ansicht ist irrig. Nicht Stumpf, sondern die Gelehrten, die 1606 eine neue Ausgabe seiner Chronik besorgten, erwähnen die Handschrift (Zangemeister, Westd. Zeitschr. 7, 352).

hat?'

Das ist es; Interesse an Denkart und Gemüt der Menschen setzt die Pflege der Poesie und setzt das Studium der älteren Literatur voraus; es ist natürlich, daß beide zugleich erwachten.

Angeregt war Bodmer vielleicht durch eine Abhandlung Gottscheds1) und mit rüstigem Eifer folgte er der empfangenen Anregung. In seinem Lehrgedicht über den Charakter der teutschen Gedichte (1734) erwähnt er schon die Poesie der hohenstaufischen Zeiten. Weiter behandelt er diesen Gegenstand in einem eigenen Aufsatz: 'Von den vortrefflichen Umständen für die Poesie unter den Kaisern aus dem schwäbischen Hause' (1743). Mit den Stücken, die Goldast publiziert hatte, war er längst bekannt; bald wurde ihm die Freude zuteil, die Quelle Goldasts, die durch unbekannte Schicksale in die Pariser Bibliothek gekommen war, zu finden. Durch die Vermittlung des Straßburger Professors Schöpflin, des Verfassers der 'Alsatia illustrata', gelang es ihm und seinem Freunde Breitinger, 1746 den Kodex nach Zürich zu bekommen. Die Freude war ungemein. 'Das Vergnügen', schreibt Bodmer, 'das sein Anblick bei uns erweckete, und noch in höherem Grade der Inhalt dieses Werkes war von den empfindlichsten ... Wir nahmen in der Entzückung unserer Herzen keinen Anstand, eine getreue und sorgfältige Abschrift davon zu nehmen, womit wir in der Tat in kurzer Zeit zu Ende kamen.' 1748 veröffentlichten sie aus ihrem Schatz 'Proben der alten schwäbischen Poesie des 13. Jahrh.'. Zehn Jahre später, 1758 und 1759, folgte die 'Sammlung von Minnesingern aus dem Schwäbischen Zeitpuncte' 2).

1) Schon in der 1. Ausgabe seiner Critischen Dichtkunst (1730) zitierte Gottsched die erste Strophe aus dem Winsbecke, in seine Critischen Beyträge nahm er verschiedene Rätsel auf, welche auf die Minnesinger hinweisen. Der Einfluß auf Bodmer (v. Raumer S. 254 Anm. 2) wird von Sokolowsky, Diss. S. 25, und anderen bestritten. Nach Bodmers Vorgang schrieb G. seine Abhandlung von dem Flore der deutschen Poesie zu Kaiser Friedrichs I. Zeiten (1746). In seinem Handlexikon der schönen Wissenschaften und freyen Künste (1760) widmete er Walther und anderen Minnesingern Artikel (Scherer, Literaturgesch. S. 397). Über andere Arbeiten s. Waniek, Gottsched S. 645 f.

2) Dazwischen liegen die Publikationen: Fabeln aus den Zeiten der Minnesinger 1757, als deren Verfasser Lessing 1780 Boner nachwies, und Chriemhildens Rache und die Klage, zwey Heldengedichte aus dem schwäbischen Zeitpuncte. Samt Fragmenten aus dem Gedichte von den Nibelungen und aus dem Josaphat. Zyrich 1757. Vollständig war die Minnesingerhs. nicht wiedergegeben; über 800 Strophen fehlen (MSH 4, 896).

Die Aufnahme entsprach nicht der Begeisterung der Freunde. Die Teilnahme der Gelehrten 1) war gering, das große Publikum blieb gleichgültig. Eine Aufforderungsschrift, mit welcher Bodmer und Breitinger 1753 die Liebhaber des Schönen und Artigen, der alten einfältigen Sitten, der Sprache der schwäbischen Zeiten befühlten, entdeckte ihnen, daß sie mit Unrecht gehofft hatten, die Proben würden eine allgemeine Begierde erwecken, diese Überbleibsel, diese Denkmäler des Witzes und des Herzens unserer Voreltern vollständig zu sehen. 2) Fast nur bei ihren Landsleuten in Zürich fanden sie Anerkennung und bereitwillige Unterstützung. Der Beifall und die Zustimmung einiger hervorragender Männer mußte sie trösten. Hagedorn, der auch schon auf das Volkslied hingewiesen hatte, war von den Minneliedern ganz eingenommen und hatte sich sehr empfindlich geäußert, daß sie im allgemeinen so wenig Anklang gefunden hätten (MS 1, S. IV). Auch Wieland ließ sich zeitweise interessieren) und Lessing und Klopstock bekundeten jeder in seiner Weise ihr Interesse an der älteren deutschen Sprache und Literatur.4) Klopstock dachte daran, den Heliand herauszugeben und versuchte sich gar in Hexametern in otfriedischer Sprache); er kannte auch die Minnesinger und selt

1) Durch Bodmer wurde der Professor der Mathematik Wiedeburg veranlaßt, Mitteilungen über die Jenaische Liederhs. zu machen: Ausführliche Nachricht von einigen alten teutschen poet. Manuscripten aus dem dreyzehenden und vierzehnden Jahrhunderte, welche in der Jenaischen akademischen Bibliothek aufbehalten werden. Jena 1754 (v. Raumer S. 257). Auf die zweite Heidelberger Hs. machte dann 1796 Fr. Adelung aufmerksam: Nachrichten von altdeutschen Gedichten, welche aus der Heidelbergischen Bibliothek in die Vatikanische gekommen sind, S. 87 ff. Bodmer selbst wies in seinen Litterarischen Denkmalen (1779) auch auf die Weingartner Liederhs. hin und veranlaßte, daß sich andere um sie bemühten, s. Sokolowsky, Der altdeutsche Minnesang im Zeitalter der deutschen Klassiker und Romantiker, Dortmund 1906, S. 19 f. 37.

2) Noch im Jahre 1781 beklagt sich Bodmer in den 'Litterarischen Pamphleten' über die kaltblütige Unempfindlichkeit, mit welcher man die minneklichen Minnelieder zugrunde gehen lasse (Sokolowsky, Diss. S. 43). Warum liegt Bodmers Ausgabe in unseren Buchläden tot da?' fragt Herder noch 1793 (Sämtl. Werke, Suphan 16, 214ff.; s. Sokolowsky, Der altdeutsche Minnesang S. 17).

3) Sokolowsky, Der altdeutsche Minnesang S. 27 ff.

4) Sokolowsky a. a. O. S. 21 ff.

5) Brief vom 6. Januar 1767, Briefe von und an Klopstock hrsg. v. Lappenberg S. 164. Bodmer selbst hatte ein mhd. Lied gedichtet, s. Sokolowsky, ZfdPh 35, 75.

sam klingen die Weisen des Minneliedes in den vollen Ton seiner Oden. 1)

Wirkendere Freunde gewannen die Minnesinger in den siebziger Jahren unter den jüngeren Dichtern. Zwar Goethe und sein Kreis blieben diesen Studien fern. Der verdiente Oberlin hatte in Straßburg vergeblich versucht, Goethes Interesse dafür zu wecken; ihn und seine Genossen schreckte die Sprache, die man erst hätte studieren müssen. Entschlossener waren die jungen Dichter in Göttingen. Miller, ein Ulmer von Geburt, besaß in seiner vaterländischen schwäbischen Mundart ein Hilfsmittel, diese älteren Dichter sich und seinen Freunden zugänglich zu machen. Bald sang Bürger mit ihm um die Wette Minnelieder und teilte in ihrem. freundschaftlichen Kreise mit ihm den Namen des Minnesingers. Bürgersche Gedichte sind es, die im Musenalmanach von 1773 zuerst und ausdrücklich in einer einleitenden Note als Nachahmungen der alten Minnesinger vorgeführt und als solche mit den Bardenliedern in Vergleich gestellt werden. 2) Die Lieder der Göttinger Dichter zeigen vielfach in Gedanken, Form und Sprache den Einfluß dieser Studien, namentlich bei Miller und in erfreulicherer Weise bei Hölty: seiner zarten, leidenschaftlichen Natur gelang es am besten, sich in die Weisen der Minnesinger einzuleben und sie nachzubilden.3) Aus dem Kreise der Göttinger Dichter ging 1776 die Zeitschrift hervor, die bis 1788 der Sammelpunkt für die Freunde

1) Kaiser Heinrich (1764) V. 65 ff. (Oden hrsg. v. Muncker u. Pawel 1, 163). Bodmer hatte das erste Lied Kaiser Heinrichs 1745 im Stile von Gleims Scherzhaften Liedern übertragen, s. ZfdPh 35, 74. Höchst wunderlich mischen sich in einem Gedicht aus der Schule der Schweizer, das Bodmer in den Minnesingern (I, S. X) mitteilt, die erborgten seraphischen Klänge mit den Wendungen der alten Lieder und den Anschauungen moderner Schäferpoesie. Vgl. ZfdPh 16, 85 ff.

2) Prutz, Göttinger Dichterbund 214f. Bürgers Winterlied 1772 (Sauers Ausgabe S. 52f.) schließt mit den Worten: 0 Mai, was frag ich viel nach dir? Der Frühling lebt und webt in ihr, wie Walthers Sô die bluomen ûz dem grase dringent (45, 37): hêr Meie, ir müeset merze sin, ê ich min frouwen dâ verlür. Vgl. auch Walther 118, 5. In einem anderen Gedicht begegnet der Gedanke, daß der Dichter den geraubten Kuß gerne wiedergeben will.

3) Mühlenpfordt, Einfluß d. Minnesinger auf die Dichter d. Gött. Hains. Leipz. Diss. 1899. Die beschränkte Richtung der Göttinger tritt recht deutlich in Millers Lied eines Mädchens' hervor, das Walthers Liede Under der linden nachgebildet ist. Philisterhafte Biedermeierei hat das reizend duftige Lied zur Karikatur entstellt.

auch der älteren deutschen Poesie wurde: das von Boie geleitete Deutsche Museum. Besonders lebhaft, nicht ebenso glücklich, war Gleim bemüht. Er hatte schon nach dem Erscheinen der 'Proben' einige Strophen des von Trosberg übersetzt. Später erschienen von ihm: Gedichte nach den Minnesingern 1773 und Gedichte nach Walther von der Vogelweide 1779.1)

Neben den Dichtern müssen wir Herder nennen, den Bannerträger im literarischen Freiheitskampf des 18. Jahrhunderts. Schon in der dritten Sammlung der 'Fragmente' ist von den Bemühungen der Schweizer für die Literatur des Mittelalters die Rede; aber nur ganz im allgemeinen und unter dem Gesichtspunkt der Geschichte. 2) Minnelieder las er 1770, in der Zeit seines Brautstandes; Karoline erinnert daran in einem ihrer Briefe; aber erst in der Abhandlung 'Von der Ähnlichkeit der mittleren englischen und deutschen Dichtkunst' (1777) tritt er öffentlich und entschieden. für das Studium der älteren Lyrik ein, dringt darauf, daß man den Fußstapfen der Goldast, Schilter, Schatz (d. i. Scherz), Opitz, Eckard folge, preist den Manessischen Kodex als einen Schatz von deutscher Sprache, Dichtung, Liebe und Freude. 3) Wenn die Namen Schöpflin und Bodmer auch kein Verdienst mehr hätten, so müßte sie dieser Fund und den letztern die Mühe, die er sich gab, der Nation lieb und teuer machen. Er führt darüber Klage, daß diese Sammlung alter Vaterlandsgedichte nicht die Wirkung gemacht habe, die sie hätte machen sollen. Es sei zuviel verlangt von dem Deutschen, daß er von seiner klassischen Sprache weg noch ein anderes Deutsch lernen solle, um einige Liebesdichter zu lesen; nur etwa durch den einzigen Gleim seien diese Gedichte in Nachbildungen, manche andere durch Übersetzungen recht unter die Nation gekommen; der Schatz selbst liege da, wenig gekannt, fast ungenutzt, fast ungelesen. Herder sah diese Studien in großem Zusammenhang; er

1) Walthers Ir sult sprechen willekomen wandelt sich in Gleims 'Der deutsche Mann' (Sämtl. Werke hrsg. von Körte 2, 359): Ein deutscher Mann zu sein ist Ehre; Gottlob, ich bin ein deutscher Mann usw.

2) SW (Suphan) 1, 368: 'Sollten es nicht die Zeiten der Schwäbischen Kaiser verdienen, daß man sie mehr in ihr Licht der Deutschen Denkart sezzte: wir sind den Schweizern allen Dank schuldig, daß sie durch die Ausgabe einiger Denkmäler dieses Zeitalters einen etwas hellern Stral auf die Litterarseite dieses Jahrhunderts geworfen.'

3) SW (Suphan) 9, 522 ff.

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