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Bei der Neubearbeitung der Ausgabe Walthers von der Vogelweide stellte sich rasch heraus, daß sich das von mir im ersten Bande dieses Werks angewandte Verfahren im zweiten nicht gut durchführen ließ. Hier standen mir aus dem Nachlaß (außer einem noch zu erwähnenden Manuskriptrest) lediglich die von Wilmanns in sein Handexemplar eingetragenen Korrekturen und kurzen Hinweise auf die seit der 2. Auflage 1883 erschienene und Wilmanns noch bekannt gewordene Literatur zur Verfügung. Bei dieser Sachlage hätte ich die Brauchbarkeit des Werks schwer geschädigt, wenn ich einfach den Text mit dem alten Wilmannsschen Kommentar abgedruckt und meine Zusätze und Veränderungen in eckigen Klammern zugefügt hätte. Stadler ist bei der Erneuerung von Wackernagels Ausgabe des Armen Heinrich mit Fug und Recht so verfahren. Aber bei Walther, wo so viel strittig, die Forschung so lebhaft tätig ist und die Auffassungen oft weit auseinandergehen, hätte das eine viel zu starke Belastung der Anmerkungen ergeben. Ich habe also überall gleich das vorgetragen, was ich selbst glaubte verantworten zu können. Aber ich habe mich doch bemüht, die von Wilmanns geschaffene Grundlage, soweit es irgend ging, festzuhalten, und glaube eher zu konservativ als zu revolutionär verfahren zu sein. Die sicheren Ergebnisse neuerer Forschung habe ich stillschweigend eingefügt. Öfters habe ich, wo ich einer Ansicht von Wilmanns nicht ganz glaubte zustimmen zu können, die apodiktische Fassung meiner Vorlage etwas problematischer gestaltet; wer den Kommentar zu Walther benutzt, soll auch fühlen, wo er unsicheren Boden tritt. Wo ich aber einmal entschieden anderer Ansicht war als Wilmanns, habe ich immer zuerst ihm das Wort gegeben und seine Auffassung mit einem „Wilmanns meinte" oder dergleichen wenigstens kurz angedeutet, ehe ich meinen Widerspruch vortrug. Wer genau wissen will, was im Kommentar Wilmanns gehört und was mir muß sich

freilich der Mühe unterziehen, die vorliegende Ausgabe sorgfältig mit der zweiten oder dritten zu vergleichen. Besondere Aufmerksamkeit habe ich der strophischen Form der Gedichte Walthers zugewandt. Die Forschung auf diesem Gebiet steht erst in den Anfängen: ich halte es für wünschenswert, daß sich das Interesse derer, die sich mit Walther beschäftigen, ernstlicher den hier entstehenden Fragen zuwende. Daß ich bei den Sprüchen die üblichen Namen der Töne mitgeteilt habe, wird ja wohl allgemein Beifall finden.

In welchen Fällen ich im Walther-Text von dem Wilmannsschen abgewichen bin, zum Teil in engerem Anschluß an die im selben Verlag erschienene kleinere Ausgabe, ist aus den „Lesarten" zu ersehen, die von mir dadurch gänzlich umgestaltet wurden, daß ich auch die Abweichungen von den Handschriften mit aufgenommen habe. Erst dadurch wird der Leser in die Lage versetzt, das Verhalten der Herausgeber richtig zu beurteilen und zu erkennen, welche Wege die Textkritik seit Lachmann gewandelt ist. Auch das scheint mir die Aufgabe eines Werks, das zum ernsten Studium Walthers anleiten will. Natürlich bin ich dabei Lachmanns Apparat auf Schritt und Tritt verpflichtet. Ich habe die Abdrucke von A, B, C nachverglichen; aber auf eine Kollation der anderen Handschriften glaubte ich verzichten zu können. D und E hätte ich sonst monatelang in Jena behalten müssen, und bei der Sorgfalt, mit der Lachmann und sein Bearbeiter C. v. Kraus verfahren sind, war vorauszusehen, daß dabei nichts irgendwie Wertvolles herausgesprungen wäre. Die Handschrift F, die ich von meinen Studien über die ältesten Fastnachtsspiele her genau kannte und seinerzeit zu eigener Belehrung mit Lachmanns Ausgabe verglichen hatte, habe ich zwar wieder eingesehen, aber während der Korrektur nicht mehr zur Hand gehabt.

Der Druck des Bandes, der im Januar 1922 begonnen wurde, hat ungewöhnlich lange gedauert und mußte wegen der allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnisse oft unterbrochen werden; einmal hat er über ein Vierteljahr lang gestockt. Das hat verschiedene Unebenheiten im Gefolge gehabt, die ich zu entschuldigen bitte. Ich hoffe, daß sich auf den letzten Bogen nicht noch zwischen Imprimatur und Reindruck neue Druckfehler eingeschlichen haben. Versehen des Textes sind in den Lesarten verbessert.

Was mir während dieser langen Druckzeit an neuerer Literatur bekannt wurde, habe ich noch zu verwerten gesucht. Die neuen

Bruchstücke der Wolfenbüttler Handschrift des 13. Jahrhunderts habe ich erst nach Druck der Einleitung kennen gelernt, aber für Text und Lesarten noch verwertet, erst nach ZfdA 29, 309 ff., dann auch nach der 8. Lachmannschen Ausgabe. Ich habe auch die Handschriften-Siglen noch in Übereinstimmung mit v. Kraus bringen können, bis auf die kleine Differenz, daß bei mir noch U heißt, was v. Kraus Ux nennt, und daß die seinerzeit von v. Heinemann herausgegebenen und, wie auch v. Kraus gesehen hat, falsch geordneten Wolfenbüttler Fragmente des 14. Jahrhunderts, denen jetzt v. Kraus die Sigle w gibt, von mir noch w genannt werden, und die nach Kraus zur selben Handschrift gehörigen Heiligenstädter Blätter bei mir die Bezeichnung W, bei v. Kraus aber wxvii und wxx tragen.

Hätten mir die Ausführungen von Schneider PBb 47, 225 ff. schon vorgelegen, so wäre ich S. 20 ff. doch auf die beiden Programme von Wisser näher eingegangen (Das Verhältnis der Minneliederhandschriften B und C zu ihrer gemeinschaftl. Quelle, Eutin 1889, und Das Verhältnis der Minneliederhandschriften A und C zu ihren gemeinschaftlichen Quellen, Eutin 1895). Ich hatte das vermieden, weil ich über Wissers Resultate ähnlich dachte wie Fr. Vogt Zfd Ph 24, 90 ff. Die Sammlung Q stellte auch ich mir als unfertig, eine rohe, noch im Wachsen befindliche Materialsammlung vor, so daß für die Textkritik von Walther nur ein Zwischenglied eingeschoben wurde, das ich ignorieren zu können glaubte, weil sich dadurch die Probleme nicht weiter verschoben. Ich wollte die schöne und klare Darstellung von Wilmanns nicht unnötig komplizieren. Wenn nun Schneider, auf Wisser fußend, den Urheber von Q zu einem Redaktor macht, der mit bewußtem Ordnungsprinzip in das Chaos der Überlieferung eingriff, so würde allerdings das, was Wilmanns (und ich ihm folgend) von der alten Müllenhoffschen Liederbuchtheorie beibehalten hat, so gut wie vollständig zusammenstürzen. Aber gegenüber so augenfälligen Tatsachen wie den drei Gruppen der Quelle BC, die S. 20 ff. als a, b, c geschieden sind, scheint mir denn doch die Beweiskraft von Schneiders Beobachtung, die gewiß einen richtigen Kern enthält, nicht groß genug. Um nur éins anzuführen: Schneider ist der Meinung, daß in Str. 62 B 150 C = Lm. 60, 34 (Ich wil nu teilen ê ich var) die Worte 61, 3f. mîne suære haben die lügenære den Redaktor an 44, 24 wan durch der lüge

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nære werdekeit erinnerten. Aber S. 23 ist wahrscheinlich gemacht, daß schon die gemeinsame Vorlage von BCE die Lieder in derselben Folge hatte, und da E gewiß nicht die von Wisser und Schneider Q genannte Sammlung benutzt hat, so wäre hier das von Schneider angenommene Prinzip auch das eines zweiten Sammlers Q1 gewesen. Auf wie schwachen Stützen seine Ansicht gerade bei Walther steht, fühlt Schneider selbst. Daß die Nachtragstrophen B 85. 86, die zu Lm. 50, 19 (Bin ich dir unmare) gehören, schon vom Sammler Q deshalb hinter 84 (64, 4) 218 C eingeordnet wurden, weil frouwe, nú versinne dich einen merkbaren Anschluß an und muose sich versinnen bot, ist mir durchaus unglaublich. Die ganze Frage bedarf der Nachprüfung; aber für Walther werden wir wohl nicht zu wesentlich veränderten Ergebnissen gelangen.

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Für die Einleitung ist neben dem, was aus der früheren Auflage herübergenommen wurde, S. 1-13, S. 52 unten und 53 noch ein Stück, Wilmannssches Manuskript benutzt worden, das wohl eigentlich für den ersten Band bestimmt war, das ich aber dort nicht einordnen konnte und doch nicht gern ungenutzt lassen wollte. Es war mir in leichter Überarbeitung zur Abrundung willkommen. Der geschulte Philologe erkennt freilich die Nähte.

Meinem früheren Zuhörer Herrn Studienassessor Hucke, der die Korrektur der ersten Bogen mitgelesen hat und mir auch beim Register behilflich war, sei auch hier herzlichst gedankt.

Möge das lang vergriffene Werk auch in der neuen Bearbeitung sich nutzbringend erweisen!

Jena, den 18. Juni 1924.

Victor Michels.

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