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und die hohen Vorzüge der Dichtung angefügt. Ich gestehe, dass mir diese Umstände nicht so aussehen, als wenn der Verfasser aus eigener Kenntnissnahme und Lectüre den Werth der Dichtung kennen gelernt hätte. denklich macht mich jenes intelligentibus (ut audientibus ac intelligentibus non minimam sui decoris dulcedinem praestet); es scheint fast, als ob der Verfasser selbst zu denen gehört hätte, welche die Dichtung nicht verstanden. Ein anderer Satz wieder scheint geradezu zu verrathen, dass der Verfasser die Dichtung selbst gar nicht gesehen habe: Nam cum divinorum librorum solummodo literati atque eruditi prius notitiam haberent, ejus studio [atque imperii tempore, sed Dei omnipotentia atque inchoantia mirabiliter] actum est nuper, ut cunctus populus suae ditioni subditus theudisca loquens lingua, ejusdem divinae lectionis nihilominus notionem acceperit. Diese Worte kann man doch nicht anders verstehen, als dass alles Volk deutscher Zunge durch die bewusste Dichtung Belehrung erhalten habe. Allein sollte alles Volk deutscher Zunge den sächsischen Dialekt so gut verstanden haben, dass es sich ruhig die Einführung einer in demselben verfassten Dichtung hätte gefallen lassen, um daraus zu lernen? Ich halte dies für unmöglich. Der Heliand hat zu sehr einen rein sächsischen und lokalen Charakter, als dass er in andern Landschaften hätte Aufnahme finden können. Und dann Otfrid! Dieser müsste doch dann das Werk kennen gelernt haben. Ich vermuthe fast, dass dieser ganze Satz, nicht bloss die eingeklammerten Worte, interpolirt ist. Verloren wird kein nützlicher Gedanke; denn der erste Theil der Periode entspricht dem weiter unten folgenden Satze: quatenus non solum litteratis, verum etiam illiteratis, sacra divinorum praeceptorum lectio panderetur; der Nachsatz aber enthält den anstössigen Gedanken. Fällt dieser Satz weg, so schliesst sich dann der mit Praecepit namque beginnende Satz besonders vortrefflich an den Ausdruck in hoc magno opusculo, der sonst ziemlich in der Luft schwebt. Man hat gerade aus diesem Ausdrucke schliessen wollen, dass in einem Codex wenigstens die Dichtung von dieser Praefatio eingeleitet gewesen sei. Allein der Schluss ist nicht nothwendig und zwingend. Denn in hoc magno opusculo sollte nur den allgemeinen Gegensatz bilden zu den Worten in aliis innumerabilibus infirmioribusque rebus; und das Pronom. demonstr. kann sehr wohl auf das Werk, das unmittelbar darauf besprochen wird, hinzeigen.

Hatte aber der Verfasser der Praefatio, wie wir Grund hatten zu vermuthen, nicht selbst genau die ganze Dichtung durchlesen, nun so kann seine Inhaltsangabe keinen Werth haben. Woher er sie hat, darüber feste Behauptungen aufstellen zu wollen, wäre thöricht. Uebrigens stimmt die Inhaltsangabe auch darin nicht mit dem Heliand überein, dass darin steht, der Dichter habe sein Werk fortgeführt ad finem totius veteris ac novi testamenti. Wir müssten, wollten wir an der Echtheit dieser Angabe festhalten, dann gar einen dritten Theil annehmen, in welchem die Apostel

geschichte und die Lehren der Apostel behandelt worden wären. Merkwürdiger Weise soll nach Beda hist. eccl. IV cap. 24 (Bed. Opp. ed. Giles Vol. III pag. 116) das Werk des Caedmon so weite Dimensionen gehabt haben. Die Worte lauten: Canebat autem de creatione mundi, et origine humani generis, et tota Genesis historia, de egressu Israel ex Aegypto et ingressu in terram repromissionis, de aliis plurimis sacrae Scripturae historiis, de incarnatione Dominica, passione, resurrectione, et ascensione in coelum, de Spiritus Sancti adventu, et apostolorum doctrina: item, de terrore futuri judicii, et horrore poenae gehennalis, ac dulcedine regni coelestis multa carmina faciebat, sed et alia perplura de beneficiis et judiciis divinis; in quibus cunctis homines ab amore scelerum abstrahere, ad dilectionem vero et solertiam bonae actionis excitare, curabat. Lange schon hat man auf die Aehnlichkeit, welche zwischen den Sagen über Caedmon einerseits und der Sage über den Dichter des Heliand andererseits herrscht, hingewiesen. Die letztere Sage ist in den,,Versus de poeta et interprete hujus codicis“ enthalten, einem Gedichte, das gewiss auch schon ziemlich frühzeitig entstanden ist. Denn wie wir nachgewiesen haben, hatte der Verfasser desselben wenigstens den Anfang des Heliand gelesen; und eine solche Kenntniss der altsächsischen Mundart wird sehr bald verloren gegangen sein. Eine Sage konnte sich aber deshalb leicht an den Dichter des Heliand knüpfen, weil seine Person ja ganz im Volke verschwindet. Wenn also auf der einen Seite der Dichter des altsächsischen Gedichts und der des angelsächsischen bald in einander verschwammen, warum sollte es so unmöglich sein, dass auch andererseits die Inhaltsangaben ihrer Werke, die ausserhalb ihrer Heimat nur dem Namen nach bekannt waren, nicht aber selbst gelesen oder gar gesungen wurden, vertauscht und in einander geworfen wurden ?*) Wir wären somit in diesem Punkte auf die Seite 3 berichtete Annahme Grünhagen's gekommen.

Das Resultat, welches wir gewonnen haben, ist kein besonders erfreuliches, und wir haben dunkle Wege durchwandeln müssen, um es zu erreichen. Aber meine Absicht war, diese dunkeln Wege wenigstens einmal zu betreten, und den Versuch zu machen, ob sich nicht Etwas erkennen lässt. Es haben sich uns mannigfaltige, zum Theil neue Gesichtspunkte dargeboten; ich hoffe daher, dass meine langen Auseinandersetzungen und Entwickelungen nicht ganz umsonst gewesen sind.

Die Bekanntschaft mit Caedmon würde natürlich nur aus Beda stammen.

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II.

Die Quellen des Heliand.

1. Tatian's Evangelienharmonie.

Dass der Dichter des Heliand die unter Tatian's Namen gehende und im Mittelalter weit verbreitete lateinische Evangelienharmonie gekannt und benutzt habe, lehrte schon eine flüchtige Vergleichung beider Werke. Daher wir diese Beobachtung schon bei Schmeller ausgesprochen finden, Prooem. pag. XI de Poemate: Quod dictorum factorumque evangelicorum seriem attinet, autorem tritam illam veteribus inde a tertii post Chr. seculi initiis Ammonii (vulgo Tatiani) Alexandrini Harmoniam circa Matthaeum maxime versantem, anno 546 a Victore Episcopo Capuae latine editam prae oculis habuisse ex utriusque operis collatione facile nobis persuademus, cum filum narrationis idem ferme videatur paucis tantum inversis, aliis quidem sive levius attactis, sive plane praetermissis. In diesen Worten ist angegeben, worin sich die Abhängigkeit des einen Werks von dem andern besonders ausspreche: es ist nämlich im Grossen und Ganzen dieselbe Reihenfolge und dieselbe Auswahl der biblischen Geschichten eingehalten. Dass diese Thatsache keine zufällige sein kann, beweist z. B. Otfrid's Krist und die Historiae Evangelicae Libri IV des Juvencus (ed. Arevalus Rom. 1792). In der Erzählung der Geburt Christi und seiner Kindheit stimmen sie wohl alle überein, weil hier die Berichte in den Evangelien spärlich fliessen und somit grosse Variationen nicht möglich sind. Aber dann hört auch die Uebereinstimmung auf, namentlich bei Otfrid, der nach eigenem Ermessen inter quatuor evangelistas incedens medius den biblischen Stoff behandelt hat; bei Juvencus kehrt immer einmal eine Aehnlichkeit wieder, da er sich im Ganzen, ebenso wie Tatian, an das Evang. Matth. hielt, aber trotzdem sind auch hier die grössten Abweichungen.

Da nun die Uebereinstimmung zwischen Heliand und Tatian grösser ist, als ihre Differenz, so würde es unzweckmässig sein, die ganze grosse

Masse der Kapitel des Tatian, welche im Heliand verarbeitet sind, der Reihe nach hier aufzuzählen, zumal ich am Schlusse dieser ganzen Untersuchung eine genaue Tabelle der Quellenangaben, wie sie für den Otfrid von Kelle ausgearbeitet ist (Otfrid's Krist, herausg. von Kelle p. 59 ff.) zu geben gedenke und zwar im Anschluss an die Kapitel des Tatian. Dagegen ist es nothwendig, jetzt schon die Abweichungen genau zu verzeichnen. Denn wenn auch Niemand bezweifeln wird, dass der Dichter des Heliand den Tatian benutzt hat, so wissen wir doch noch nicht ganz genau, wie er ihn benutzt hat. Hat er sich sklavisch an ihn gehalten? oder hat er sich seine Selbstständigkeit ihm gegenüber bewahrt? Benutzte er neben dem Texte des Tatian auch noch das Evangelium selbst? Hielt er sich auch im Einzelnen an Tatian, namentlich da, wo der letztere seinen Text ganz mosaikartig aus allen vier Evangelisten oder wenigstens aus den Synoptikern zusammengesetzt hat? Die Beantwortung aller dieser Fragen hat nicht nur den idealen Zweck wissenschaftlicher Genauigkeit, sondern sie gibt auch einen nicht unbedeutenden Beitrag zur Lösung der Heliandfragen selbst. Bei solchen minutiösen Untersuchungen ist es verstattet einen Einblick in die Werkstätte des Meisters zu thun. Denn das Werk birgt in geheimnissvoller Weise das Bild seines Urhebers, und wir brauchen nur mit scharfem und verständigem Auge die einzelnen Züge und Linien zusammenzusetzen, so werden wir den Schatteuriss erkennen und dieser wird Leben bekommen, je genauer wir ihn betrachten. Wird er uns den Dichter zeigen, wie er einsam sitzt in einer Halle, sinnend in einem Buche, der Evangelienharmonie des Tatian, liest und sich aus demselben, hier einzelne Verse, dort ganze Kapitel mit dem Finger überspringend, den Stoff zu seinem Werke sammelt, und wie er neben sich andere Bücher liegen hat, die Bibel und Schriften der Kirchenväter, in denen er bisweilen nachsieht und Belehrung sucht? Oder werden wir den Dichter erblicken, wie er in der Zelle eines Klosterbruders andächtig den Worten des letztern lauscht, die dieser ihm, ein Buch zur Richtschnur in der Hand haltend, vorträgt? Wir beginnen jetzt mit einem Verzeichnisse der Kapitel, welche im Heliand gar nicht oder doch nur zu einem kleinen Theile berücksichtigt worden sind.*) Es fehlen also folgende Abschnitte der Evangelienharmonie des Tatian:

Aus Cap. III Visitatio Mariae (Luc. I 39—56).

Aus Cap. IV das Lied des Zacharias (Luc. I 67—79).

Aus Cap. V Genealogia Christi (Matth. I 1-16).

Aus Cap. XVI, das Joh. I 35-42 enthält, ist Vers 37-42 weggelassen (Christus vocat primos discipulos), jedenfalls deshalb, weil dieselben Jünger (Petrus und Andreas) Cap. XIX nochmals berufen werden.

*) Ein Vergleich dieses Verzeichnisses mit dem bei Schmeller wird lehren, wie ungenau das letztere ist. Doch hat Schmeller vermuthlich die Absicht, vollständig zu sein, gar nicht gehabt.

Aus Cap. XVII Nathanaelis ad Christum accessus (Joh. I 43—51). Aufgenommen ist nur der Schluss: Christus geht nach Galiläa (Luc. IV 14. 15).

Aus Cap. XVIII Christus docet in patria Nazareth (Luc. IV 16—21). Aufgenommen ist nur Marc. I 15, Matth. IV 17 Christus predigt in Galiläa Busse.

Aus Cap. XIX Petri Fischzug (Luc. V 1-11). *)

Aus Cap. XX Discipulorum Baptistae de Christo disputatio, Joannisque decisio (Joh. III 22—34. IV 36. 1. 2). Aufgenommen sind nur die beiden Anfangsverse Matthaei vocatio (Matth. IX 9, Luc. V 28). Weggelassen ist auch Matth. IV 12. Joh. IV 3, weil sich diese Stellen auf Joh. III 22 beziehen.

Cap. XXI Christi in Capernaum habitatio (Matth. IV 12-16), ein unbedeutender Abschnitt.

Es folgt nun die Bergpredigt. Hier hat der Dichter sehr viel weggelassen, auch Manches verstellt, überhaupt das Ganze sehr selbstständig gestaltet, aber gewiss zu einer der schönsten Partien der ganzen Dichtung. Es fehlt:

Cap. XXIX De divortio (Matth. V 31. 32).

Aus Cap. XXXI (De vindicta prohibita) die nähere Ausführung dieser Vorschrift (Matth. V 39-42). **)

Aus Cap. XXXVI De veris thesauris Matth. VI 22. 23.
Aus Cap. XLII De vitandis falsis prophetis. Continuatio (Matth. VII 21—23)
Alles bis auf den 1. Vers, der später (V. 1915-1926) verwendet ist.
Die sonstigen Abweichungen in der Bergpredigt, die sich besonders bei
Cap. XXXII. XL. XLI. XLIV zeigen, können in der Tabelle am Ende
eingesehen werden.

Es fehlt ferner:

Cap. XLVI Leprosus a Christo sanatus (Matth. VIII 1. 2. Marc. I 40. Matth. VIII 1. 3. 4. Marc. I 45).

Cap. XLVIII Socrus Petri a Christo sanata (Matth. VIII 14. 15).

Cap. LI Christi imitatio, mundi abnegatio (Matth. VIII 19. 20. Luc. IX 59. Matth. VIII 22. Luc. IX 60–62).

Aus Cap. LIII Gadarenorum ingratitudo (Matth. VIII 34. Luc. XIII 35. Matth. VIII 34. Marc. V 18. Luc. V.II 38. Marc. V 19. 20).

Jetzt ist ein sehr grosses Stück weggelassen. Es fehlt:

Cap. LV Reguli filius sanatur (Joh. IV 46-53).

*) Der Heliand hat die Berufung der Jünger als geschlossenes Ganzes, nicht so zerrissen wie sie bei Tatian und in den Evangelien ist. Vrgl. V. 1148-1202.

**) Sed si quis te percusserit in dextram maxillam tuam, praebe illi et alteram, diese und ähnliche Selbstverläugnungen konnte der Dichter seinen Sachsen nicht zumuthen.

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