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In jener Beziehung müssen zuweilen Bilder wirkliche Erklärungen ersetzen. Eine dritte Form betrifft den Gedankengehalt. So stellt die moderne Denkart die Bewegung der Ruhe, das Urteil den Begriffen voran. Von besonderem Interesse ist hier das Verhältnis von Überkommenem und Selbstgeschaffenem. Nachdem man z. B. die scholastische Terminologie zuerst leidenschaftlich zurückgewiesen, hat sie nach und nach eine Art von Auferstehung erfahren (!), S. 173. Es wäre wünschenswert, wenn die Aufgabe eines Thesaurus der philosophischen Terminologie in Angriff genommen würde (S. 174).

Die Bedeutung der scholastischen Renaissance am Ende des 16. und am Beginne des 17. Jahrhunderts wird unterschätzt. Das philosophische Studium selbst an protestantischen Universitäten geriet unter ihren Einfluß. (In der Tat dozierte man Metaphysik nach Suarez. Die scholastische Tradition war auch sonst nie ganz unterbrochen, wir erinnern an die Salzburger Thomistenschule.) Manche Formel, wie z. B. natura non facit saltus, reicht weiter, als man glaubt. Der Einfluß des Occamschen Satzes: frustra fit per plura, quod potest fieri per pauciora erstreckt sich auf Kepler, Galilei, Newton (S. 177).

Aus dem dritten Abschnitt: „Zur Geschichte der Philosophie im alten Jena" entnehmen wir, daß das alte Jena in der Philosophie den Aristotelismus treu bewahrt habe (S. 183). In Daniel Stahls regulae philosophicae ist ein scholastisch gefärbter Aristotelismus vertreten. Es werden dabei nicht nur die verschiedenen Phasen der mittelalterlichen Scholastik, sondern ganz besonders die Neuscholastik mit ihren mannigfachen Vertretern namentlich aus dem Jesuitenorden fortwährend herangezogen (S. 184). Dagegen verfolgte Erhard Weigel eine eigene Bahn. Ihn hörten Leibniz und Pufendorf. Er bekämpfte die scholastische Logik bis in die einzelnen Schlußarten hinein und erhob die Mathematik zur leitenden Methode (S. 185).

Die jenaische Philosophie behauptete ihre aristotelische und scholastische Tradition auch gegenüber der vordringenden Leibnizschen und Wolffschen Philosophie, bis endlich um die Mitte des 18. Jahrhunderts auch an ihr die neue Denkweise zum Siege gelangte (S. 187).

Diese Tatsachen beweisen, welche zähe Lebenskraft der traditionellen Philosophie innewohnte. Es liegt hierin ein Präjudiz für ihre Allgemeinheit und Wahrheit. Ander

seits aber zeigen dieselben, wie es dem Protestantismus nur allmählich gelang, den ihm gemäßen philosophischen Ausdruck zu finden. Auch die Leibniz-Wolffsche Philosophie war nur ein Übergang zur Kantschen, der Philosophie des Protestantismus.

In Kantschen Ideen befangen trotz der Polemik gegen die „reine Anschauung" zeigt sich Dr. Al. Höfler in seinem Vortrag über ,,geometrische Nichtanschauung und Gestaltanschauung" (Wissenschaftl. Beilage zum 19. Jahresbericht der philosoph. Gesellschaft an der Universität zu Wien. Leipzig 1906), wenn er den Übergang von der experimentellen zur theoretischen Physik als ein „Unterfahren“ der uns gegebenen physischen Gegenstände mit selbstgeschaffenen Begriffen und Annahmen bezeichnet. Was er Unterfahren unserer Anschauungen und Erfahrungen durch die Begriffe Punkt, Abstand, Richtung, Gleich usf. nennt, ist vielmehr Abstraktion; denn Beziehungen gehören, wie schon der hl. Thomas lehrt, dem abstrahierenden Verstande an; nicht minder die Auffassung des Punktes, der nicht angeschaut, sondern gedacht wird. Der Redner weist darauf hin, daß, wenn wir Psychologen und Logiker" uns Jahrzehnte lang gegen das Dogma der Sensualisten: Nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu vergeblich gewehrt haben, jetzt von den Führern des exakten und empirischen Denkens bestätigt bekommen, daß es Fälle gibt, in denen der Mensch zuerst unanschaulich denkt und das Gedachte vielleicht erst in seinen Urenkeln auch anschaulich vorstellen lernt (S. 12). Dagegen wird man mit Grund einwenden, daß Allgemeines, Denkbares, dem keinerlei Erfahrung entspricht, haltlos in der Luft schwebt und auf Anschaubarkeit überhaupt Verzicht leisten muß. Es gibt zwar Begriffe, die nicht nur vom sinnlichen Stoffe, sondern auch von jeder Beziehung auf Raum und Quantität frei sind, auf Abstraktion aber beruhen sie alle.

Dabei bleibt bestehen, daß das „Aussehen" der geometrischen „Grundbegriffe" zur Gültigkeit der geometrischen Lehrsätze nichts beitrage, was man indessen längst wußte. Ebensowenig berührt es den Begriff einer strengen Kontinuität, wenn wir z. B. einen vollkommenen Kreis weder zeichnen noch vorstellen können. Die Unterscheidung einer psychologischen und,,gegenstandstheoretischen" Analyse (S. 15) ist für den Peripatetiker nichts Neues; auch nicht, daß wir das „Nicht" nicht aus der „physischen

Welt" entnehmen. Dergleichen subjektive Begriffsgebilde nennen wir entia rationis, wozu außer gewissen Relationen eben die Negationen und Privationen zu rechnen sind. Um Kant zu überwinden, genügt es nicht, das „Apriorische" der Geometrie ohne die reine Anschauung" zu begreifen (S. 21); das Apriorische selbst muß einer richtigen Abstraktionstheorie weichen.

Die Nichtanschaulichkeit der geometrischen Grundbegriffe darf jedoch nicht zu den Fiktionen der Metamathematik und Metageometrie mit ihrem neuen Raumbegriff von x Dimensionen verführen, Fiktionen, die mit Wissenschaft nichts zu schaffen haben.

Aus dem vorangehenden Vortrag Kleins über Grenzfragen der Mathematik und Philosophie verdient die Schlußerklärung angeführt zu werden: „Es ist ein gemeinsamer Charakter aller Wissenschaften, daß alles in Zweifel gezogen wird, was bis dahin als ganz feststehend gegolten. Alles ist in Gärung, so auch in der Mathematik" (S. 7). Sollte nicht die Zerfahrenheit in der Grundwissenschaft, der Philosophie, einen Hauptgrund für diese Sachlage bilden? Das Schwanken zwischen Apriorismus und Empirismus scheinen auch die einzelnen Wissenschaften mitzumachen.

In der an Kleins Vortrag sich anschließenden Diskussion äußert sich Boltzmann in sehr geringschätzender Weise über Kant: „Ich begreife gar nicht, wie man vom Beweisen aus Anschauung reden kann; wenn ich den Kant lese, begreife ich gar nicht, wie ein vernünftiger Mensch das schreiben kann. Anschauung beweist gar nichts. Anschauung ist nur Wiederholung dessen, was wir sinnlich wahrgenommen haben. Daß jemand Anschauung vom Raum mitbringt, der über die Erfahrung und vor der Erfahrung vorhanden sei, kann ich gar nicht begreifen" (S. 8 f.).

Also fort mit der reinen Anschauung! Fort aber auch mit dem Apriorismus! Fort mit dem Einfluß der Kantschen Philosophie überhaupt!

Nach Dr. Ewald (Vortrag über die philosophische Grundlegung der modernen Psychologie S. 71 ff.),,steht die Psychologie ohne Seele im Zentrum der modernen Seelenforschung" (also eine Seelenlehre und zugleich eine Seelenforschung ohne Seele!). An die Stelle der Seele tritt das x des Kantschen Ansich, ein „Unbewußtes". Der Assoziationspsychologie und ihrem bloßen Mechanismus tritt

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die Apperzeptionspsychologie entgegen. Faßt man die Apperzeption als eine seelische Realität, dann entscheiden wir uns d. h. der Redner für das Unbewußte. Aber dieser Begriff „bleibt vorderhand ein Rätselwort, zu dem der Schlüssel zu suchen ist“ (S. 89). Zu ihm soll die Methode der Metaphysik führen. Dies könnte aber nur eine solche im Schopenhauer-Hartmannschen Sinne sein. Idee und Wille würden an die Stelle der Seele treten. Ist dies aber etwas anderes als inkonsequenter Kantianismus? Stünden wir damit nicht doch nur bei bloßen Phänomenen? Und das Unbewußte wäre aufs neue ein Unbekanntes und Unerkennbares?

Mit dem Vorurteil, das Heil der Philosophie sei nur in Kant zu erreichen, muß endlich aufgeräumt werden, wenn auch damit der Protestantismus seine philosophische Stütze preisgeben muß.

DIE REALE UNTERSCHEIDUNG VON WESENHEIT UND DASEIN.1

VON P. REGINALD M. SCHULTES 0. P.

1. Die Lehre über den realen Unterschied von Wesenheit und Dasein der Geschöpfe zählt zu den wichtigsten und am heftigsten bestrittenen Punkten des Systems des hl. Thomas von Aquin und seiner Schule. Wir glaubten darum den neuesten Vorstoß dagegen einer eingehenden Würdigung unterziehen zu sollen. Nicht als ob das eben angezeigte Werk des P. Piccirelli wesentlich Neues bieten würde! Der Neapolitaner Professor wandelt vielmehr alte, bereits bekannte Wege, vor allem ist selbstverständlich Suarez sein Führer. Auch mit P. Limbourg, dessen Lehre bereits früher in diesem Jahrbuche eine treffliche Beleuchtung und Widerlegung erhielt, ist der Vf. so ziemlich eines

1 Disquisitio metaphysica, theologica, critica de distinctione actuali inter essentiam existentiamque creati entis intercedente ac praecipue de mente Angelici Doctoris circa eandem quaestionem auctore P. Iosepho M. Piccirelli S. J. Neapoli 1906. gr. 8o. 424 p.

Geistes. Indessen, wenn auch die Lehre und Methode des Vf.s bereits der Geschichte angehören, bietet die neue Darstellung doch mehr als genug Grund zu einer energischen Abwehr. Da die Frage selbst in diesem Jahrbuch von Magister Gundisalv Feldner O. P. in gründlichster Weise behandelt wurde,1 beschränken wir uns auf die Kritik der vorgebrachten Beweise.

2. Der Plan des Werkes. Das Werk zerfällt in drei Sektionen. Die erste behandelt propädeutisch die Begriffe von Wesenheit und Dasein, vom Nichts, von Potenz und Akt, Unterscheidung und Zusammensetzung, worauf der Fragepunkt fixiert wird (p. 5-72). Die zweite Sektion versucht den Beweis für die bloß formale oder logische Unterscheidung von Wesenheit und Dasein, und zwar vorerst indirekt durch Widerlegung der Beweise für die reale Unterscheidung, dann direkt (p. 72-163). Die dritte Sektion bringt die „,quaestio princeps" über den Sinn und die Lehre des Aquinaten, auch wieder negativ und positiv (p. 163-403).

3. Begriff von Wesenheit und Dasein. Wir beginnen mit der Kritik der propädeutischen Vorbemerkungen. An der Spitze steht die Erklärung von Essenz und Existenz. Die Existenz wird in Übereinstimmung mit den Thomisten als das erklärt, was einem Wesen die letzte Aktualität verleiht (p. . 13 etc.). Nur bemerkt der Vf., daß der Sinn der Erklärung trotz der Übereinstimmung der Worte bei verschiedenen Autoren ein ganz anderer sei (p. 15). Inbezug auf die Wesenheit unterscheidet der Vf. eine zweifache Auffassung derselben. Man könne nämlich die Wesenheit betrachten entweder im Gegensatz zum Dasein oder aber zum Suppositum. Wenn wir das Wesen im Verhältnis zum Dasein betrachten, so erscheint es als Potenz (p. 9). Dieses sei auch die Auffassungsweise des heil. Thomas, wie sich aus unzähligen Stellen desselben ergebe (p. 13). Trotzdem zieht der Vf. die andere Auffassungsweise vor. In dieser erscheint die Wesenheit als das, wodurch das Suppositum aktuiert wird (p. 9). Demgemäß könne auch die Wesenheit noch nicht als Potenz, sondern nur als Akt betrachtet werden.

Diese Auffassung der Wesenheit, welche auch die ganze Darstellung beherrscht, fordert die schärfste Kritik heraus.

1 B. II-VII. Vergl. dazu die tiefsinnige Schrift von N. Delprado. De veritate fundamentali philosophiae christianae. Placentiae 1899.

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