Page images
PDF
EPUB

gewesen“; wer so vorgeht, ist zeitverständig, wer nicht, ein Zurückgebliebener und unphilosophischer Kopf 1).

Die Preisgebung allen Wahrheitsgehaltes der Philosophie kann nicht offenherziger ausgesprochen werden, als es hier geschieht. Was der Realismus lehrte, war wahr zu Roscellins Zeit, falsch in Occams Jahrhundert; die christliche Gottesweisheit war gut genug für das Mittelalter, aber abgestanden als man Platon im Terte las; je mehr sich der Philosoph neologischen Zeitbestrebungen öffnet, um so Richtigeres enthält seine Lehre. Das herakleiteische лávτa gεi ist hier auf das Zu- und Abfluten der Lehrmeinungen übertragen. Daß nun in der Hochflut des XVI. Jahrhunderts mit vollem Rechte alles Frühere weggeschwemmt wurde, erscheint dann als Notwendig-keit; daß sich einige zeitunverständige Thomisten erhalten haben 2), man weiß nicht in welcher Arche, ist eine Laune der Geschichte. Wie aber, wenn sie einmal wieder die Zeitverständigen würden und die Wahrheit noch einmal das Kostüm des XIII. Jahrhunderts anlegte?

Diese Art Geschichtsbetrachtung, deren Nachwirkungen ja heute durchaus noch nicht überwunden sind, giebt sich nicht Rechenschaft darüber, daß sie die Philosophie vollständig von den übrigen Wissenschaften loslöst, die es sich mit Recht verbitten würden, in gleicher Weise zu Narren der Zeit herabgeseht zu werden. Sie wird auf das Niveau der Tagespresse herabgedrückt, welche allerdings Augen= blicksbilder der Zeitbewegungen giebt; aber im Grunde will die bessere Journalistik mehr bieten als das Heute, soweit sie Prinzipien vertritt, die nicht von heute und gestern sind.

Wie die Wandelbilder, welche die Hegelsche Geschichtsschreibung vorführt, ineinander übergehen und die unzeitgemäßen sich von selbst auflösen, hätten deren Vertreter an der Lehre ihres Meisters selbst am besten beobachten können. Sie ist die instantia ostensiva für die Selbstauflösung eines, den Zerseßungskeim in sich tragen= den Gebildes; hier kam wirklich, was man der Scholastik andichtet, die Spaltung aus dem Innersten heraus; die zusammengepreßten

1) Erdmann a. a. D., S. 493. 2) Oben §. 79, 7.

Widersprüche sprengten den künstlichen Bau. Aber diese Philosophie war selbst nur ein nachgeborener Sproß jener Mächte, die sich einst der Scholastik in den Weg stellten.

4. Die realistische Geschichtsschreibung, d. i. diejenige, welche die Realität der idealen Prinzipien anerkennt, faßt die Philosophie als hingeordnet auf einen realen gedanklichen Inhalt und trennt sie in diesem Betracht nicht von den übrigen Wissenschaften. Die Wahrheit, welche Pythagoras, Platon und Aristoteles suchten, ist dieselbe wie die, nach welcher Augustinus und Thomas forschten. Durch den Zusammenschluß der Denker, welche zugleich Weise waren, ist ein Wahrheitsschaß erarbeitet worden, welcher den objektiven Maßstab für die verschiedenen Gedankenbildungen gewährt. E giebt hier ein Wahr und Falsch, ein Treffen und Verfehlen, einen rechten Pfad und Irrwege, Dinge, die mit der Umfrage bei den Zeitgenossen und dem Belauschen des Zeitgeistes nichts zu thun haben. Soweit die Wahrheit im Fortgange der Geschichte er= arbeitet wird, ist sie eine Tochter der Zeit, soweit sie einen außer= zeitlichen und darum übergeschichtlichen Gehalt in sich hat, ist sie ein Kind der Ewigkeit. Die philosophischen Systeme sind universalia post rem, aber was wir mittels ihrer in den Geist zu fassen unternehmen, sind die universalia in re und legtlich die universalia ante rem.

Ein Fortschritt der spekulativen Erkenntnis in der Zeit hat stattgefunden, aber darum ist keineswegs jedes Spätere vollkommener als das Frühere; nicht die leere Form des Nacheinander begründet die Vervollkommnung, sodaß immer der recht hätte, der das lezte Wort hatte; vielmehr hat der recht, der wahr gesprochen, mag auch seine Stimme von weither zu uns herübertönen. Die Zeit bringt Fortschritte und Rückschritte; es giebt Episoden des Irrtums, die ihre Dauer nach Jahrhunderten messen. Nicht jede Periode ist der spekulativen Gedankenbildung günstig; wie in allen Gebieten folgen auf die Meister die Schüler, auf diese die Epigonen. Was der weite Blick der Meister überschaute, was ihr Tiefsinn an der Wurzel faßte, sehen ihre minder begnadeten Nachfolger nur stückweise und ohne die

tieferen Zusammenhänge zu erkennen. Sind sie pietätsvoll und halten sie den Zug zur Wahrheit in sich rege, so bewahren sie als treue Hüter das Erarbeitete für denkkräftigere Generationen und bereiten so eine neue Blüte vor; täuschen sie sich über ihre eigene Unfruchtbarkeit und geben sie neologischem Kigel nach, so meistern sie die Meister, greifen aus ihren Schöpfungen heraus, was sie verstehen, verwerfen, was über ihr Verständnis geht, und führen aus den Steinen, die sie aus den Bauten der großen Denker gebrochen, ihre Häuslein für den Augenblick auf. Aber jene Bauten bleiben. darum nach wie vor stehen und überdauern, was die Willkür zusammengefügt hat und was die Notwendigkeit des Zerfalles in sich trägt, wie jene die des Bestehens. So kommt es allerdings zur Selbstauflösung von Gedankenbildungen und die Geschichte hat solche zu buchen, aber kann es nur in der rechten Weise thun, wenn sie vorerst die den Wechsel überdauernden Gestaltungen ins Auge gefaßt hat, denn das Hinfällige ist am Standhaften, das Wechselnde am Bleibenden zu messen, nicht umgekehrt.

Wenn gegen Ende des Mittelalters verschiedenen Kreisen das Verständnis für die in der Scholastik ausgeprägte christliche Weisheit abhanden gekommen war, so folgt daraus nicht, daß diese selbst verloren gegangen; wenn die Epigonen nicht mehr die Geistesgewalt besaßen, mit der die großen christlichen Lehrer das kontemplative und das rationale Element, Mystik und Dialektik, zu binden gewußt, so folgt daraus nicht, daß die christliche Spekulation nun in Mystik und Dialektik auseinandergefallen wäre. Nicht jene große Gedankenwelt ist geborsten und zerstoben, sondern ein kleines Geschlecht hat ihr den Rücken gekehrt, wobei die einen diese, die andern andere Besitzstücke mitnahmen, um früher oder später auch diese zu verschleudern; es hat jenes dissipavit substantiam suam in der Parabel vom verlorenen Sohne hier so recht seine Stelle. Eine einseitige Mystik, anfangs noch von frommen, aber dunklen Gefühlen geleitet, vernachlässigte die Schutzwehren, welche die Meister gegen den Monismus aufgerichtet hatten, und geriet unversehens in dessen Gewalt und neologische Pietätlosigkeit schritt weiter absichtlich zur

[ocr errors]

völligen Loslösung dieser monistischen Spekulation von der christ= lichen Weisheit vor. Mißtrauen in die objektive Geltung der Begriffe, zunächst ebenfalls noch von religiöser Gesinnung begleitet, lenkte Andere in die Bahnen des Nominalismus und auch hier führten die profanae vocum novitates zu den oppositiones falsi nominis scientiae. Der Nominalismus, die Arena des verschrobe= nen Denkens wie des Halbdenkens, gewann noch mehr Freunde als der Mystizismus und stellte sich in den Dienst der Neuerungssucht. Beide falschen Denkrichtungen aber wuchsen, je länger je mehr, aus der christlichen Gesinnung heraus; aus dem Halbverstehen der Prinzipien dieser wurde Entfremdung, aus der Entfremdung Be= feindung, ein Beweis, daß jene Einseitigkeiten nicht in der christlichen Philosophie angelegt waren, und wenn sie aus ihr Nahrung sogen, dieses thaten, nicht wie Äste aus Stamm und Wurzel, sondern wie Schmarozer aus den Ästen.

Es sind nicht verborgene Fehlerquellen im Bezirke der scholastischen Philosophie, welche sich etwa geöffnet hätten, um die falschen Denkrichtungen zu tränken. Beispiele der Art zeigt die Geschichte der Philosophie mehrfach, aber hier liegt nichts ihnen Analoges vor. Wenn aus dem Platonismus die akademische Skepsis hervorging, so geschah dies wider den Geist des Systemes, aber doch nicht, ohne daß dieses einen Ansagpunkt für solche Entartung geboten hätte; denn es unterschäßte die sinnliche Gewißheit und verband darum die Erkenntnisquellen nicht in der rechten Weise, sodaß die Skepsis eine Stelle fand, um ihre Bedenken einzunisten 1). Wenn Alexander von Aphrodisias den Aristotelismus in nominalistischer Richtung umbildete, so war dies ebenfalls ein Abfall von dessen Geiste, allein die Preisgebung der Ideeenlehre durch Aristoteles hatte doch hier den Boden bereitet 2). Wenn Erigena die Spekulation der areopagitischen Schriften in monistischem Sinne weiterführte, so verstößt er gegen ausdrückliche Bestimmungen derselben, er kann aber doch auf andern fußen, welche eine pantheistische Deutung nicht aus

[merged small][ocr errors][merged small]

schließen 1). Beim scholastischen Realismus in seiner Ausgestaltung durch den hl. Thomas sind alle diese Fehlerquellen zugeschüttet; hier bietet das System keine Ansazpunkte zur Entartung und diese rührt lediglich her von dem Auseinanderreißen der verbundenen Prinzipien, dem überhören der bestimmtesten Weisungen, der Vernachlässigung der weise errichteten Schußwehren. Hier giebt es keine Keime des Verfalls, welche sich nur zu entwickeln brauchten, keine Rizen, die sich zu Spalten erweiterten. Der Fehler liegt nicht in irgendwelchen Bestimmungen der Lehre, sondern in denen, welche die Lehre nur halb hören, nur zum Viertel verstehen und schließlich das Unverstandene ganz wegwerfen.

5. Die Meinung, daß die Scholastik im Nominalismus „ausgegangen“ sei, beruht in erster Linie auf dem Mangel der Kenntnis des Thomismus nach seiner Entwickelung. Man übersieht die Bindeglieder zwischen den Thomisten des XIII. und XVI. Jahrhunderts und verkennt, daß das Erblühen der spanisch-portugiesischen Scholastik keine Neubildung ist, sondern nur den ununterbrochenen thomistischen Traditionen neuen Glanz verleiht. Zwischen dem Aquinaten und Vittoria, Soto, Toledo u. a. liegt keine nominalistische Periode des Abfalles, die erst zu überbrücken wäre, sondern der Anschluß ist unmittelbar. Ja nicht einmal die Kämpfe mit dem Nominalismus bilden für die spanischen Thomisten einen Gegenstand hervorragenden Interesses, da sie denselben vielmehr als einen verjährten Irrtum ansehen. Toledo erwähnt am Eingange seiner Logik die Meinungen der Nominalisten und der Formaliften als irrige Ansichten über die Universalien und bemerkt zu der von ihm vertretenen realistischen Lehre, daß sie seit den Zeiten der Griechen die vorherrschende Anschauung in den Schulen gewesen; und Suarez sagt im Kommentare zur aristotelischen Metaphysik von der realistischen Ansicht: Haec sententia communis est antiquorum et recentium philosophorum. In dem Kommentare der Conimbricenser „wird die Partei der Nominalisten mit so wenig

1) Oben §. 59, 6 a. E. und 69, 2.

« PreviousContinue »